Eine Frage von Moral und Schuld

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aennie Avatar

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Am Neujahrstag des Jahres 1942 trifft Friedrich in Berlin ein. Aufgewachsen in Chouleux bei Genf, Sohn eines Samthändlers und seiner Frau, der Tochter eines deutschen Großgrundbesitzers. Der Vater reist, die Mutter malt und trinkt nicht allzu heimlich. Friedrich soll nach ihrem Wunsch auch ein Künstler werden, doch verliert er nach einer Gesichtsverletzung die Fähigkeit Farben zu sehen, eine Tatsache, die in der allgemeinen Tendenz zur Realitätsflucht seiner Mutter nicht gerade zu einem entspannten Familienleben beiträgt. Ganz offensichtlich sympathisiert die Mutter mit der nationalsozialistischen Ideologie, was letztlich die Ehe der Eltern endgültig zerrüttet. Ende 1941 plant die Familie ihre Zerstreuung in verschiedene Himmelsrichtungen: die Mutter zieht nach München, der Vater geschäftlich nach Istanbul und Friedrich will reisen, etwas Zeichenunterricht nehmen - gerade das ein unwirkliches Szenario bedenkt man die Jahreszahl -, noch skurriler mutet die Reiseroute an, zunächst will er nach Berlin fahren. Das Großstadtszenario reizt ihn, das Getuschel über das Nachtleben, Drogen, Klubs – und gegensätzlicher geht es nicht: die Gerüchte über einen ominösen Möbelwagen, der Menschen abholt, Gerüchte, die der Vater ihm bestätigt, deren Ausmaß und Tragweite aber nicht fassbar erscheinen und deshalb möchte Friedrich die „Grauzone“ selbst ausloten, sehen, was „die Deutschen“ da tun, die im andererseits so verlockend stark vorkommen, selbstbewusst, ein Volk von Siegern. Kurz nach seiner Ankunft lernt er die junge Kristin kennen und sofort ist er mittendrin in diesem verführerischen Taumel aus Alkohol, verrauchten Nachtklubs, Verliebtsein. Das alles zwischen Menschen mit dem gelben Stern auf dem Mantel, Bombenalarm, Nächten im Bunker. Kristin ist alles was Friedrich nicht ist, frech, draufgängerisch, geheimnisvoll und deshalb so unglaublich anziehend für ihn. Als sie einige Tage verschwindet und plötzlich in einem schlimmen, misshandelten Zustand vor ihm steht, muss er erkennen, dass Kristin nur eine Fassade war, eine Lüge. Die Wahrheit heißt Stella Goldschlag, ist Jüdin und schwebt selbstverständlich in größter Gefahr. Stella fühlt sich nicht als Jüdin, sie sieht nicht so aus und hat vor langer Zeit schon eine Entscheidung getroffen, die einem Tanz auf der Rasierklinge gleicht. Nun wird sie gezwungen, diesen Tanz sogar über einem Abgrund weiterzuführen.

Takis Würger erzählt die Geschichte von Stella Goldschlag, die es tatsächlich gab. Nicht als Biographie, nicht als Nacherzählung der tatsächlichen Geschehnisse, sondern als mögliches Szenario. Stella Goldschlag war Gestapo-Kollaborateurin und als Greiferin tätig. Nach dem Krieg wurde sie von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt. Für mich spielt es aber auch keine Rolle, inwieweit sich der Autor und im Detail an die Fakten gehalten hat und welche Bestandteile er fabuliert hat, das Thema des Buches liegt für mich deutlich auf einem anderen Schwerpunkt. Zum einen ist für mich, und er ist nun einmal auch der Erzähler, Friedrich der Protagonist. Es geht um ihn, um seine Art, mit Realität, mit Gefühl, mit Liebe umzugehen – mit den Frauen in seinem Leben: seiner Mutter, Stella. Da gibt es einige Parallelen. So wie er in einer Art von Co-Abhängigkeit vor den Problemen seiner Mutter die Augen (mit)-verschließt, so tut er es im Wesentlichen auch später bei Stella, aus Liebe. Das ist für mich ein ganz zentraler Ansatzpunkt bei der Lektüre des Buches. Viel schwieriger zu fassen, finde ich wirklich die Auseinandersetzung und Bewertung mit der Person Stella Goldschlag. Sie ist mir nicht sympathisch, von Beginn an nicht, tatsächlich mag ich auch diese etwas rotzige Art mancher Menschen einfach überhaupt nicht. Dann liest man und es ist so furchtbar was sie tut, mit ihrem Hintergrund und man fragt sich, wie kann sie das tun, wie viel Schuld lädt diese Person auf sich und dann ist man selbst schockiert davon, dass man sich fragt, wie moralisch man selber wäre. Sie fühlt sich nicht als das, was die Nationalsozialisten aus ihr gemacht haben und sie möchte leben und sie ist vielleicht auch einfach kein netter, selbstloser, sich aufopfernder Mensch? Das entschuldigt nicht, aber darf es erklären ?– auch sehr schwierig. Viele Gedanken, die noch lange nach dem Lesen des Buches nachklingen.
Das inhaltliche beiseitegelassen, hat mich auch der Aufbau des Romans und der Stil Takis Würgers sehr angesprochen. Ein Highlight war der – mein Deutschlehrer hätte es damals „Einordnung in den historischen Kontext“ – zu Beginn jedes Kapitels, begonnen mit der Vorgeschichte der eigentlichen Romanhandlung. Grundsätzlich schreitet die Handlung ab dem Eintreffen Friedrichs in Berlin monatsweise voran und wird eingeleitet von einer Zusammenfassung der politischen Gesamtlage, kleinen Details, Einzelschicksalen und Zitaten. Würgers Stil ist sehr prägnant, manchmal direkt nüchtern anmutend – aber er macht einfach keine unnötigen Worte. Das führt dazu, dass man manchmal einen kurzen Satz mit einem z.B. in dem Moment erschreckenden Inhalt noch einmal lesen muss, da er allzu unvermittelt auftauchte. Das hat mir letztlich sehr gut gefallen.
Ein lesenswertes Buch, sehr viel anspruchsvoller als ich es vermutet hätte, definitiv ein Lesehighlight im noch jungen Jahr!