Kann man einen Menschen lieben, der verachtenswert handelt?

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caro.booklover Avatar

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Es ist schwer, diesen Roman in der aktuell heiß geführten Debatte nicht zu spoilern und so zu besprechen, dass man ihm gerecht wird. Sprachlich hat mir das Buch sehr gut gefallen. Takis Würger hat einen angenehmen Schreibstil. Die Sätze gehen unter die Haut und lassen lebendige Szenen im Kopf entstehen. Ich habe das sehr gern gelesen, wenn auch eine gewisse Distanz zu den Protagonisten bleibt.
Zwischen den Kapiteln tauchen immer wieder in Kursivschrift Auszüge aus Vernehmungsprotokollen auf, die realen Prozessakten entnommen sind. Es geht um Denunzierungen von untergetauchten Juden, die daraufhin deportiert wurden. Den Kapiteln sind die einzelnen Monate des Jahres 1942 mit ihren Schlaglichtern vorangestellt. Zum Teil handelt es sich um recht banale Ereignisse, auch aus dem Ausland, doch auch die "10 Gebote von Joseph Göbbels" finden einzeln ihren Eingang. Da kann es einem schon mal eiskalt den Rücken hinunterlaufen und es bildet einen klaren Kontrast zu dem recht sorglosen Alltag, den der naive Friedrich erlebt. Der Protagonist reist also absichtlich in eine Stadt, die am Krieg beteiligt ist. Er hat bereits Gerüchte gehört, dass irgendetwas mit den Juden passiert. Doch so richtig weiß er nichts. Im Laufe des Romans wirkt er wie in einer Blase gefangen, die vom Geld gut ausgepolstert ist und nichts Negatives durchlässt, solange er die Augen davor verschließt. Und doch gelangt er irgendwann zu unangenehmen Erkenntnissen. Er spürt eine Abneigung gegen die Nazis und die SS und muss doch erkennen, dass er sich mit einem von ihnen angefreundet hat, ohne es zu ahnen. In Kristin, die sich später als Stella outet, verliebt er sich Hals über Kopf. Doch auch sie hat ein Geheimnis. Sogar ein Großes. Eigentlich weiß er es. Aber er will es nicht wahrhaben. Kann man jemanden lieben, der gegen die eigenen moralischen Vorstellungen handelt? Was würde man selbst tun, um die, die man liebt, zu schützen? Um sich selbst zu schützen? Es ist ein schwieriges Thema, keine Frage. Ich finde es befremdlich, wenn Menschen sofort empört aufschreien und alles verteufeln, was andere aus Verzweiflung oder unter großem Druck tun. Gerade in dieser Zeit, während der Herrschaft der NSdAP und des 2. Weltkrieges, gab es sicherlich viele Situationen, in denen ganz normale Bürger tief greifende Gewissensentscheidungen treffen mussten, in denen man abhängig von der eigenen Entscheidung mit dem eigenen Tod oder dem Tod naher Angehöriger konfrontiert war. Für die meisten von uns sind solche Entscheidungen heutzutage zum Glück unvorstellbar. Dieses Buch zwingt zur Frage: Wie hätte ich mich verhalten? Was hätte ich getan? Und so kommt es, dass man auch für verachtenswerte Handlungen ein gewisses Verständnis entwickeln kann, auch wenn man die Tat an sich absolut verurteilt. Doch was einen Menschen dazu bringen kann, das schafft Takis Würger zu transportieren. Aus meiner Sicht auch nicht mit dem Anliegen, irgendwelche Sympathien für Verbrecher wecken zu wollen. Im Gegenteil. Für mich war hier sehr viel zwischen den Zeilen zu lesen, aber manchmal muss man eben genau hinschauen. Das scheinen manche Leser bei diesem Buch nicht zu tun oder sie wollen es nicht, ich bin nicht sicher. Überzeugt bin ich aber, dass Takis Würger mit dieser Geschichte nichts verharmlosen möchte. Sein Schreibstil macht es möglich, dass Grauen dieser Zeit zu spüren, ohne dass plakative Sätze formuliert werden. Der Blick auf Stella erfolgt ausschließlich aus Friedrichs verliebter Sicht. Diesen Ansatz fand ich interessant, da man selbst auch in die Lage versetzt wird, eigentlich nicht viel über die Frau zu wissen und Dinge zu hinterfragen. Liefert das Buch eine umfängliche Antwort? Nein. Die historische Person Stella Goldschlag wird nicht vollständig abgebildet. Es bleibt ein fiktiver Roman, erzählt aus der Sicht einer fiktiven Person. Das Buch regt dazu an, sich mit dem Thema und der Person Stella Goldschlag weiter zu beschäftigen. Takis Würger geht in seinem Nachwort auf ein paar Dinge ein, ich wollte aber noch mehr über diese Frau erfahren. Einer ihrer Schulkameraden hat in den 90er Jahren eine Art Biografie verfasst, die ich mir demnächst durchlesen werde. Ich hätte mir gewünscht, dass der Autor (nicht unbedingt im Roman, aber doch im Nachwort) noch mehr auf sie eingeht und ihre Person näher charakterisiert.

Fazit:
Stilistisch hat mir dieser Roman sehr gut gefallen. Durch die reduzierte Sprache bleibt aber eine gewisse Distanz zu den Protagonisten, die ich gern überwunden hätte. Dennoch wurden bei mir Emotionen ausgelöst. Entgegen einiger kritischer Stimmen finde ich ganz und gar nicht, dass Takis Würger historische Begebenheiten oder die Person der Stella Goldschlag verharmlost hat. Er stellt den Auslöser, den Beginn ihrer Tätigkeit dar, ihren weiteren Werdegang erfährt man zum Teil über die Vernehmungsprotokolle und im Nachwort. Dafür kann man nun Verständnis aufbringen oder nicht. Im Leben gibt es nicht nur Schwarz und Weiß - das war für mich die wichtige Botschaft dieses Romans, auch wenn das Thema, um das es grundlegend geht, sehr emotional behaftet und nicht einfach anzunehmen ist.