Stella

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rauscheengelsche Avatar

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Friedrich wächst in reichem Haushalt in der Schweiz auf; eigentlich fehlt es ihm an nichts, außer an der Liebe seiner Eltern. Für seine Mutter ist er eine Enttäuschung, sein Vater bevorzugt es die Welt zu bereisen statt sich um die Familie zu kümmern. Im Jahr 1942 beschließt er, das Nest am Genfer See zu verlassen und sich selbst ein Bild von den Gerüchten zu machen, die man über die deutsche Hauptstadt hört. In Berlin angekommen, will er wieder malen und lernt so an der Kunstschule Kristin kennen. Die junge Frau strotzt nur so vor Lebensfreude und mit Tristan haben sie einen Gefährten, der mit ihnen das schöne, süße Leben jenseits des Kriegs voll auskostet. Lange können sie ignorieren, was um sie herum geschieht, doch irgendwann platzt die Illusion, für Friedrich besonders hart, denn seine Geliebte ist nicht die Frau, für die er sie gehalten hat, sondern heißt Stella, ist Jüdin und schuldig unmenschlicher Verbrechen.

Das Jahr 2019 ist kaum zwei Monate alt und hat schon seit Wochen einen literarischen Skandal erster Güte: Tais Würgers zweiter Roman „Stella“. Nicht nur, weil man unmöglich der öffentlichen Diskussion um das Buch ausweichen kann, sondern vor allem, weil mir der Autor bereits mit seinem Debütroman „Der Club“ positiv in Erinnerung ist, war ich gespannt auf diese Geschichte. Enttäuscht wurde ich nicht, Würger ist ein überzeugender Erzähler, der hervorragend zu unterhalten weiß.

Ich mag auf die für mein Empfinden restlos dargelegten Argumente für und gegen diesen historischen Stoff nicht eingehen. Ob Takis Würger nur besonderes Aufsehen mit der Verarbeitung der Lebensgeschichte einer real existenten Person erheischen wollte, kann ich auch nicht beurteilen und die Frage nach dem rechtmäßigen Zugriff auf den Nachlass, entzieht sich sowieso meiner Beurteilungskraft. Von daher bleibe ich bei dem, wozu ich etwas sagen kann. Der Handlungsaufbau hat mir gut gefallen, insbesondere die Figur des Friedrich, um den es noch viel mehr geht als um die titelgebende Stella, ist ein interessanter Charakter, dessen Kindheitserfahrungen plausibel als prägende Erinnerungen auch einen Einfluss auf sein Dasein als Erwachsener hat. Verwunderlich, aber nicht minder glaubwürdig das Leben im Kriegsberlin derjenigen, die Geld und Macht hatten. Das Hotel Adlon kann den Schein der Unbekümmertheit und Normalität erstaunlich lange aufrechterhalten und bietet seinen Gästen den gewohnten Komfort. Die Atmosphäre ist dem Autor zweifelsohne authentisch gelungen.

Wie immer bei Literatur, die zur Zeit der Nazi-Herrschaft angesiedelt ist – und insbesondere wenn auf reale Ereignisse zurückgegriffen wird – drängt sich die Frage nach Schuld und Täterschaft auf. In diesem Fall ist sie einfach zu beantworten, nur kurz glaubt man wirklich an das arme Mädchen, das in einer moralischen Zwickmühle steckt, allzu lange nimmt man ihr das nicht ab. Allerdings war für mich fast noch entscheidender die Frage nach Friedrichs Position: er kommt letztlich als Kriegsgaffer nach Berlin, er sieht zu und versteht, was geschieht, aber als Schweizer hat er ja mit allem nichts zu tun: ist das nicht ebenso schändlich?