Was würdest du tun?

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Als ich zurück in mein Zimmer im Grand Hotel kam, lag Stella wach in der Dunkelheit. Bevor ich ihr von dem Gespräch mit Tristan erzählen konnte, sagte sie: »Morgen finde ich Schönhaus.«
Ihre Stimme klang wie im Frühjahr, die Kraft war wieder da. Für einen Moment stockte mir der Atem.
»Das kannst du nicht.«
»Ich muss.«
»Aber das darfst du nicht.«
Ich sah, wie sie sich auf der Matratze drehte, von mir abwandte und aus dem Fenster schaute.
»Ich weiss.«
AUS „STELLA“, S. 133

Der neue Roman von Takis Würger ist ein Buch, das Fragen stellt und einem zum nachdenken zwingt. Denn wie hätten wir gehandelt, welche Entscheidungen hätten wir getroffen? Und wo beginnt die eigene Schuld?

Ein junger Mann vom Genfersee im pulsierenden Berlin
Beginnen tut die Geschichte bei Friedrich, der in einer Villa am Genfersee aufwächst. 1942 flüchtet er geradezu aus seinem privilegierten Leben, seinem Zuhause, das ebenso wohlhabend wie kaputt ist. Die Mutter ist Alkoholikerin und kommt nicht darüber hinweg, dass Friedrich durch einen Unfall die Fähigkeit verlor, Farben zu sehen. Und sein Vater reist aufgrund seiner Geschäfte um die ganze Welt und ist nie daheim. So ist die Köchin für Friedrich noch am ehesten das, was man eine Mutter nennen würde.
Friedrich macht sich 1942 also auf nach Berlin, um eine Zeichenschule zu besuchen und mit eigenen Augen zu sehen, ob die Gerüchte von den Möbelwagen stimmen, die im Scheunenviertel die Juden einsammeln.
In Berlin angekommen quartiert sich der junge Mann im Grand Hotel ein und besucht die Zeichenschule. Dort lernt er Kristin kennen, die den Zeichenschülern Modell sitzt. Sie nimmt ihn mit in geheime Jazzclubs, singt, tanzt und gibt ihm seinen ersten Kuss. Doch Kristin bleibt unergründlich, Friedrich weiss nicht, wo sie wohnt, wie sie mit Nachnamen heisst oder was sie treibt, wenn sie nicht bei ihm ist. Manchmal bleibt sie auch tagelang verschwunden. Bis zu dem Tag, als sie mit kahl geschorenem Kopf und übel zugerichtet vor Friedrichs Zimmertür steht und ihm gesteht, dass sie ihn angelogen hat.

Nach einer wahren Geschichte
Denn Kristin heisst eigentlich Stella. Und Stella Goldschlag lebte wirklich. Sie war Jüdin, wurde durch ihre blonden Haare und die hellen Augen aber nicht als solche erkannt. Diesen Umstand machte sie sich zu nutze und lebte lange unerkannt in Berlin. Als ihre Familie enttarnt wurde, arbeitete sie mit der Gestapo zusammen und denunzierte zahlreiche untergetauchte Juden aus Berlin. Vorerst um ihre Eltern vor der Deportation zu retten, was sie danach bewegte, weiter zu machen, ist auch heute noch unklar.

»Ich weiss nicht, ob es falsch ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten. Ich weiss nicht, ob es richtig ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten.«
AUS „STELLA“, S.196

Wichtige Fragen
Und die Figur der Stella ist es auch, die diesen Roman für mich unglaublich spannend zu lesen machte. Denn durch Stella stellen sich uns Fragen nach Schuld und unserem eigenen Handeln. Während der Lektüre dachte ich ganz oft darüber nach, wie ich wohl an ihrer statt gehandelt hätte. Was hätte ich alles getan, um meine Familie zu retten? Oder generell, wie hätte ich mich verhalten, wenn ich zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gelebt hätte? Hätte ich mich in Anbetracht der allgegenwärtigen Gefahr getraut, gegen das Regime zu sein und beispielsweise einen Juden oder eine Jüdin zu verstecken? Hätte ich offen meine Meinung gesagt oder wäre ich auch eine der vielen, stillen Mitläuferinnen gewesen? Und inwieweit träfe mich dann Schuld?
Dieses Buch stellt ganz wichtige Fragen auf die es keine einfachen Antworten gibt, die auch ich nicht eben mal so beantworten kann.

Rasant erzählt
Takis Würger schafft es, die Geschichte flott zu erzählen, so dass ich wie im Rausch gelesen habe. Die Sätze sind kurz, knapp und auf den Punkt, mit unnötigen Beschreibungen und Introperspektiven wird sich nicht aufgehalten. Allerdings bleibt dadurch auch vieles im Unklaren, die Beweggründe für Friedrichs Handeln beispielsweise, für seine Passivität. Und trotzdem passt es auch wieder zur Geschichte, die an und für sich schon genügend Zündstoff enthält.

Gut herausgearbeitet waren auch die Gegensätze zwischen dem scheinbar „normalen“ Leben in Berlin, den nächtlichen Vergnügungen, der Liebesgeschichte und der stetigen Bedrohung durch den Krieg, Bombenangriffe und den Abtransport der Juden.
Takis Würger gelingt dies durch die Einstiege in die Kapitel, wo willkürliche historische Fakten aufgezählt werden. So finden neben der Gründung der Widerstandsgruppe „Weisse Rose“, der Geburt von Paul McCartney auch die zehn Gebote von Goebbels platz oder die Bombardierung von Bremen. Eine zusätzliche Ebene bieten Auszüge aus den Gerichtskakten und Zeugenaussagen zum Fall Stella Goldschlag. So erfahren wir nach und nach das Ausmass von Stellas Taten und sehen den Kontrast zu der zarten, liebenden Frau in Friedrichs Armen.

»Manchmal schafften wir es, Stellas Eltern zu vergessen. Wir machten uns schuldig, jeder auf seine Art.«
AUS “STELLA“, S. 176

Fazit
Stella ist ein Buch über eine Frau, die es uns nicht leicht macht, sie zu verstehen. Ihre Geschichte zwingt uns aber dazu, uns Fragen zu stellen, wichtige Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Das ist die grosse Stärke dieses Buches.
Der flotte Schreibstil mit seinen kurzen, knappen Sätzen lassen das Buch zu einem regelrechten Page-Turner werden. Viele Dinge bleiben im Unklaren und schwingen nur zwischen den Zeilen mit, was aber auch ganz gut zu Stella passt. Ihre Beweggründe bleiben nämlich bis heute im Dunkeln.
Wenn ihr euch also für Schicksale aus dem Zweiten Weltkrieg interessiert und wenn ihr euch gerne einmal in eine etwas andere Perspektive hinein versetzen wollt, könnte euch dieses Buch interessieren.