Die Vision eines besseren Lebens

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roomwithabook Avatar

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Dieses Buch hat mich sofort interessiert, habe ich doch das Buch über Juchitán, auf das sich die Autorin hauptsächlich bezieht, vor Jahren gelesen. Es geht um das Matriarchat, um eine potenziell ideale Gesellschaft, in der die Frauen das Sagen haben und es sogar ein anerkanntes „drittes Geschlecht“, die Muxe, gibt. Aber stimmt das überhaupt? Friederike Oertel, erschöpft vom Leben in der Großstadt, wünscht sich eine Auszeit, um sich über einiges klarzuwerden. Da kommt ein zufälliger Bücherfund gerade zur rechten Zeit: „Juchitán – Stadt der Frauen“ heißt der von Veronika Bennholdt-Thomsen herausgegebene Sammelband von 1994. Eine Gruppe von Forscherinnen quartierte sich damals für ein Jahr in der mexikanischen Stadt ein, um die Gesellschaft dort zu untersuchen. Und Oertel, angezogen von der Vorstellung weiblicher Herrschaft, tut es ihnen nach und zieht zumindest für drei Monate dorthin. Sie mietet ein Zimmer bei einer lokalen Familie, bekommt dadurch gleich Anschluss und versucht, ihr neu erworbenes Wissen über die Matriarchatsforschung mit den Gegebenheiten vor Ort in Einklang zu bringen. Doch ganz so idyllisch wie erhofft ist es natürlich nicht, außerdem stellt sich heraus, dass auch die Matriarchatsforschung ein Kind ihrer jeweiligen Zeit und entsprechenden Moden unterworfen ist. Zwar sind die Frauen in der zapotekischen Kultur tatsächlich für den Handel und damit den Geldfluss zuständig und sie vererben ihren Besitz an ihre Töchter, bei der Kindererziehung und -betreuung wird ihnen aber trotzdem von männlicher Seite aus nicht geholfen. Und auch Zapotekinnen sind in den mexikanischen Staat eingebunden, einem Staat mit einer der höchsten Rate an Femiziden weltweit und einer immanenten Queerfeindlichkeit, die auch von den Muxes nicht halt macht, und zudem einem Staat, der sich vorrangig für indigene Kulturen interessiert, wenn sie in anthropologischen Museen und Stätten ausgestellt werden können. Oertels Buch ist halb literarische Recherche zur Matriarchatsforschung, halb Erfahrungsbericht ihrer Reise nach Juchitán. Das ist durchaus unterhaltsam zu lesen, das Matriarchat dient dabei als Folie, die auf das eigene Leben sowie die Realitäten vor Ort gelegt wird. Dabei treten viele Ungereimtheiten zutage und am Ende bleiben mehr offene Fragen als Antworten, vieles wird nur angerissen. Aber das macht nichts, das Buch liefert durchaus Denkanstöße und Einblicke in eine andere Lebensrealität, die unsere traditionellen binären Geschlechtsvorstellungen infrage stellt, und das ist ja nie verkehrt.