Dieses Buch muss auf die Lehrpläne der Nation!

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kascha Avatar

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Friederike Oertels hat „Urlaub vom Patriarchat“ genommen und ist losgezogen, ein Matriarchat, nämlich die “Stadt der Frauen” Juchitán in Mexiko zu besuchen. Und das ganz alleine. Das ist nicht nur eine mutige Reise, sondern auch ein wirklich spannender Perspektivwechsel, wo die Realität der Geschlechterverhältnisse in vielen Teilen der Welt konstant von männlich dominierten Strukturen geprägt ist. Sie reist also in die mexikanische Stadt Juchitán, die als eines der letzten matriarchalen Gesellschaftsmodelle der Welt gilt. Frauen führen dort die Haushalte, erben Besitz, prägen das gesellschaftliche Leben. Und die Männer? Die spielten - so die Berichte - traditionell eher eine Nebenrolle. Und zwischen beiden Geschlechtern existiert ein drittes: die Muxes, queere Menschen, seit Jahrhunderten selbstverständlicher Teil der Gesellschaft.

Wer einen reinen Reisebericht in eine feministische Utopie sucht, wird hier nicht fündig. Hier geht es nicht darum, ein exotisches Matriarchat ins Schaufenster zu stellen, sondern genauer hinzuschauen, ob die bisherigen Berichte stimmen; zu Reflektieren - auch selbstkritisch - über Geschlecht, Macht und gesellschaftliche Ordnung(en). Wie sehr ist das Selbstbild von Frauen von patriarchalen Normen durchdrungen - auch in einem Matriarchat? Gibt es das Matriarchat überhaupt? Wie hat sich unser weibliches Selbstbild entwickelt. Wo kommen die Strukturen her, die wir viel zu selten hinterfragen und gibt es wirklich nur das “Entweder-oder”?

Für mich liegt die Besonderheit dieses Buches in der Verbindung von persönlichem Erleben, politisch-gesellschaftlicher Analyse, philosophischen Exkursen und einer wirklich präzisen Beobachtung. Oertel schreibt ehrlich, klug und stellenweise richtig humorvoll über ihre Erwartungen, Entdeckungen, die Wirren dieser besonderen Stadt, aber auch über ihre eigenen Unsicherheiten und Fragen. Während sie durch Juchitáns Straßen läuft, sich auf dem Markt mit Frauen unterhält oder den Geschichten von Muxes lauscht, fängt sie nicht nur Atmosphäre und Eigenheiten dieses Ortes ein, sondern spiegelt sie auch immer wieder zurück - sowohl auf ihr eigenes Leben, aber auch auf Frausein im Allgemeinen. Diese Reflexionen sind niemals belehrend, vielmehr stellt sie Fragen, tastet sich voran, erkennt Widersprüche an und sucht deren Ursprünge.

Richtig toll - also wirklich toll!!! - ist es, wie differenziert sie dabei vorgeht. Sie gibt uns die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven kennenzulernen. Sie bettet alles in einen sozial-historisch-politischen Kontext ein. Sie romantisiert Juchitán nicht. Sie zeigt auch ganz bewusst die Schattenseiten auf: die immer noch vorherrschende politische Macht der Männer, überall lauernde Gewalt, Armut und strukturelle Ungleichheiten. Matriarchat, so wird deutlich, bedeutet nicht automatisch Gleichberechtigung oder gar Harmonie. Und doch: Das tägliche Miteinander, die sozialen Praktiken und die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen dort das öffentliche Leben prägen, lassen einen deutlich spüren, wie anders Geschlechterverhältnisse organisiert sein könnten.

Gerade diese Ambivalenzen machen „Urlaub vom Patriarchat“ zu einem absoluten Knaller-Buch. (Wobei dieser flapsige Ausdruck der Tiefe des Buches wirklich nicht gerecht wird, aber ich bin einfach so unfassbar begeistert!) Man spürt beim Lesen, dass es kein Manifest sein will, keine Gebrauchsanweisung für die (vermeintlich) bessere Gesellschaft oder sonstwie ähnliche Ansprüche an sich selbst hat. Vielmehr ist dieser Text eine Einladung zum Innehalten, Hinschauen und Weiterdenken. Es stellt die Gewissheiten unserer eigenen sozialen Ordnung infrage und macht erfahrbar, dass Geschlechterrollen eben nicht naturgegeben sind – sondern gestaltbar. Das ist unbequem. Aber genau in diese Unbequemlichkeit müssen wir endlich reingehen, damit sich doch endlich mal was ändert.

So, und hier nochmal in Kürze:
„Urlaub vom Patriarchat“ ist ein kluges, mutiges Buch über kulturelle Differenz, weibliche Selbstermächtigung und die Sehnsucht nach einem Leben jenseits von Machtasymmetrien. Es ist ein feministischer Erfahrungsraum, der sich lesend öffnet – vielstimmig, widersprüchlich, lebendig. Für alle, die sich für Genderfragen interessieren, für Feminismus, für das Verlernen von Selbstverständlichkeiten, für die Räume, die wir einnehmen dürfen (und sollten) und lernen möchten, dass es einfach nicht dieses große Matriarchat vs. Patriarchat gibt, dass dazwischen so viele Graustufen liegen, dass es in jeder Gesellschaft heißt, Ambiguitätstoleranz zu zeigen und noch so viel mehr, ist dieses Buch ein absolut riesiger Gewinn. Es schenkt einem keine einfachen Antworten, aber dafür eine so wichtige Einsicht: Es gibt immer andere Möglichkeiten, Gesellschaft zu denken – und zu leben. Und vor allem: Wir haben alles, was wir brauchen!!!!