Island auf dem Weg in die Moderne

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dajobama Avatar

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60 Kilo Kinnhaken – Hallgrimur Helgason
Island um 1900. Die Geschichte des Jungen Gestur, den wir im ersten Band dieser opulenten Island-Saga kennenlernen durften, wird weitererzählt. Es wurden einige Jahre übersprungen – Gestur ist zu Beginn dieses Romans 19 Jahre alt und trägt bereits die Verantwortung für mehrere Menschen. Genau wie sein Land ist auch er auf dem Weg erwachsen zu werden. Die Veränderung des rückständigen und abgeschiedenen Islands auf dem Weg in eine fortschrittlichere Zukunft, deren Beginn wir bereits in Gesturs Kindheit (erster Band!) verfolgen durften, schreitet weiter voran. Die Norweger entdecken den kleinen Ort als Fischfang-Hochburg. Sie errichten Heringsfabriken und fallen in Heerscharen ein – und bringen diverse Errungenschaften der modernen Welt mit, wie etwa das Telefon, oder elektrischen Strom.
Es ist eine eindrucksvolle und opulente Saga, die der Autor hier geschaffen hat. Auch hier ist der klare Protagonist Gestur, auf dem Weg zum erwachsenen Mann. Gerade die neu entdeckte Sexualität spielt immer wieder eine große Rolle. Darüber hinaus tauchen aber auch noch unzählige andere hochinteressante, genial gezeichnete Figuren auf. Im Vordergrund stehen Land und Leute Islands. Das harte abgeschiedene Leben dieser armen Bauern auf diesem isländischen Fjord zu jener Zeit ist es, was der Autor dem Leser nahebringen will. Und das tut er äußert eindrucksvoll. Auf weit über 600 Seiten ist genug Raum für jede Menge detaillierter Beschreibungen der Lebensumstände, Wohnsituationen, Eigenheiten der teils recht kauzigen Menschen. Das ist manchmal wirklich eklig und sehr oft erschreckend. Ein wunderbares Werk, das in diesem Band aber durchaus auch seine Längen hat und viel Konzentration erfordert.
Das Besondere an dieser vielschichtigen Geschichte ist der bissig schwarze Humor des Autors. Es ist wirklich köstlich, wie böse er die Rückständigkeit seines Volkes jener Zeiten auf die Schippe nimmt. Ein gnadenloser Stil, bitterböse und ziemlich witzig. Auf der anderen Seite werden tragischste Begebenheiten lapidar mit einem Satz serviert. Skurril und geschmacklos – aber genial.
Den Einstieg in dieses monumentale Werk fand ich gar nicht so einfach. Trotz allem Unterhaltungswert ist es ein recht literarischer Schreibstil, den der Autor pflegt. All die isländischen Namen, Orte und Sitten sind zusätzlich gewöhnungsbedürftig. Doch nach ein paar Seiten hatte mich die Geschichte und ich war begeistert von der Sprache, dem Setting und der Tiefgründigkeit. Ein Werk, dem man die Zeit geben muss, damit es einen einfangen kann. Dann eröffnet sich einem eine komplett neue, faszinierende Welt.
Meiner Meinung nach ist es hier durchaus notwendig, den ersten Band „60 Kilo Sonnenschein“ gelesen zu haben. Abgesehen von einer Lücke von mehreren Jahren, schließt dieser Roman nahtlos an den Vorgänger an und nimmt auch mehrmals Bezug dazu.
Auch dieses Ende legt die Vermutung nahe, dass Gesturs sowie Islands Geschichte noch nicht fertig erzählt ist und wir uns auf eine Fortsetzung freuen dürfen. Bei aller Begeisterung für dieses Meisterwerk isländischer Literatur hatte ich aufgrund diverser Längen ab und an Schwierigkeiten dranzubleiben. Man braucht wirklich sehr viel Konzentration und Muse für diesen Roman – gerade was im Alltag oftmals fehlt.
5 Sterne!