Kein Land für Feiglinge

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aischa Avatar

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Mit "60 Kilo Kinnhaken" legt Hallgrímur Helgason den zweiten von insgesamt drei Teilen seiner monumentalen Island-Saga vor. Die Geschichte spielt von 1906 bis Ende des zweiten Weltkriegs, eine Zeit voller tiefgreifender Umbrüche.

Der Wechsel von Haifisch- auf Heringsfang brachte den Bewohnern der kargen, unwirtlichen, politisch noch zu Dänemark gehörenden Insel wirtschaftlichen Aufschwung, die Industrialisierung hielt Einzug und - im europäischen Vergleich relativ früh - Frauen erhielten 1915 das Wahlrecht. Wir begleiten Helgasons Protagonisten Gestur auf dem Weg ins Erwachsenwerden, er entdeckt seine Sexualität und lebt sie in wechselnden Frauengeschichten munter aus. Übrigens spielt der Name eine große Rolle, denn Gestur bedeutet Gast. Und wie der Autor in einem Interview verraten hat, ist er der Meinung, die meisten Isländer würden sich im eigenen Land nicht wirklich zu Hause, sondern als Gast fühlen.

Der Roman zeichnet sich durch einen sehr eigenwilligen und originellen Stil aus, die Sprache ist oft derb, kippt ins Ordinäre, um dann wieder unvermittelt poetisch zu werden, die Erzählung ist voller Brutalität aber auch Witz. Gleich zu Beginn begeisterte mich die Darstellung des Autors als Eule im eigenen Werk, während davon die Rede ist, dass sich der Leser in Druckerschwärze am wohlsten fühle. Etwas überstrapaziert wurden für meinen Geschmack Anachronismen als Stilmittel, der Autor zieht viele Vergleiche zu Dingen, die es zur Zeit der Romanhandlung noch nicht gab.

Helgason schildert seine Landsleute - sicher mit einem Augenzwinkern - als rückständige Dörfler, es wird reichlich Alkohol getrunken, sich zum Spaß geprügelt und bei der Wahl der Sexualpartner*innen ist man nicht gerade zimperlich. An Hygiene mangelt es allenthalben, nicht aber an Lektüre: Isländer sind ein Volk der Dichter, und die Geschichte steckt voller Anspielungen auf Isländersagas. Hier hätte ich mir allerdings etwas mehr Begleitung durch das deutsche Lektorat anhand von erläuternden Fußnoten gewünscht. Auch das Verzeichnis der Personen- und Ortsnamen ist etwas kurz geraten. Zwar finden sich Erläuterungen zu Namensbedeutungen, aber die Beziehungen der Figuren zueinander sucht man vergebens. Da ich den ersten Teil (60 Kilo Sonnenschein) nicht gelesen habe, hatte ich gerade anfangs etwas Schwierigkeiten, mich in der Geschichte zurecht zu finden.

Dennoch ist Helgason mit diesem Roman ein großer Wurf gelungen, Leseempfehlung!