Sprachlicher Überflieger

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"lch fühle mich als würde ich fliegen wenn ich Humor benutze" hat der international erfolgreiche isländische Schriftsteller Hallgrimur Helgason in einem Interview gesagt. Und er wird dieses Gefühl in seinem gerade erschienenen neuen Roman "60 Kilo Kinnhaken" gar nicht mehr losgeworden sein.
Wieder befasst er sich mit dem kleinen fiktiven Ort Segulfjördur, der nun - 1906 - dank der Heringsfischerei einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Doch mit dem Einzug moderner Techniken und dem Zuzug von Norwegern und Dänen, die gleichfalls vom Heringsfang profitieren wollen, verändert sich das Leben am ehemals abgeschiedenen Fjord einschneidende. Das Fischerdorf entwickelt sich innerhalb eines Jahrzehnts zur industriell geprägten Kleinstadt.
Inmitten dieser Umbrüche wird der zu Romanbeginn 19jährige Gestur, "der Prolet aus den Torfkotten" durch die Begegnung mit sehr unterschiedlichen Frauen zum erwachsenen Mann.
Aber vor allem trägt er auch die Verantwortung für seinen alten Ziehvater Lasi samt dessen Schwiegermutter Grandvör, für den mutterlosen Olgeir und dessen Kindermädchen und bald dazu für die stumme Engelfein und eine gemeinsame Tochter.
Und schließlich gibt es dann auch noch Anna mit ihrem kleinen Jon.
Angesichts dieser Last trifft Gestur hinter dem Rücken seines Ziehvaters folgenreiche Entscheidungen.
Ein prächtiger Bilderbogen entfaltet sich da vor dem Leser, der sich manchmal wünscht bereits durch die Lektüre des ersten Bands der Saga von den vielen Mitwirkenden erfahren zu haben um die Geschichten besser einordnen zu können. Aber es geht auch so.
Im zweiten Band seines Romanzyklus macht uns der Autor mit vielfältigen alten und neuen Charakteren bekannt, mit einem sehr bunten nordischen Völkergemisch, skrupellosen Geschäftsleuten und gerissener Ortsprominenz. Und natürlich mit den Frauen, die sich vor Ort zahlreich einfinden um hier eigenes Geld zu verdienen. Doch nach vielen guten Jahren für den Ort und seine Bewohner kommt es eines Tages zur Katastrophe.
Mit der Schilderung vielfältiger Geschehnisse im aufstrebenden Flecken - Heringsfestivals und Havarien, heftigen Orgien, Vergewaltigungen und Frauenmorden - schüttet der Autor ein wahres Füllhorn an Sprache über dem Leser aus, 669 Seiten voll krachender Originalität. Der einzigartige Stil Helgasons wechselt zwischen Humor bis hin zum Sarkasmus und Passagen voll malerischer Poesie. Der Leser ist fasziniert und bleibt auch Dank dieses Erzählstils neugierig bis zum Schluss. Eine Toplektüre!
Lobend erwähnt sei auch der Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig, der den bilderreichen Stil des Autors stets pointenfein trifft.
Viereinhalb Sterne für ein sprachgewaltiges Werk und eine Leseempfehlung für alle Literaturliebhaber!