4,5* Verstörende, intelligente Gesellschaftskritik

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lovely_lila Avatar

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** Die Rezension enthält leichte Spoiler, vor denen aber in der Rezension noch einmal gewarnt wird! **

~ Seltsam, faszinierend, beunruhigend, befremdlich, verstörend.

Ein Roman, der unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält und zeigt, wohin unsere Besessenheit von Trends, unserem Körper und Realityshows führen kann. Diese verstörende Parabel enthält viele Wahrheiten und intelligente Gesellschaftskritik. Nur selten ist die Geschichte langatmig. Die meiste Zeit über ist sie auf verrückte Art genial und faszinierend. ~

Inhalt

A ist eine junge Frau, die als Korrekturleserin arbeitet. B wohnt mit A zusammen und tut zum Schrecken dieser alles, um genau so auszusehen, wie A. C ist As fernsehsüchtiger Freund, der sich um nichts zu kümmern scheint als Dokumentationen über Haifische und Reality-Shows.

Warum habe ich dieses Buch gelesen?

Als ich mir die Leseprobe durchgelesen habe, war ich blitzverliebt in dieses Buch. Der Schreibstil gefiel mir auf Anhieb und die beschriebenen Szenen hatten etwas Faszinierendes.

Meine Meinung

Das ist wieder einmal ein Buch, bei dem man gar nicht so richtig weiß, wo man anfangen soll. Es ist nämlich vollkommen anders als alles, was ich je gelesen habe.

Ich mache es einfach ganz traditionell und beginne mit dem Schreibstil. Dieser ist flüssig und sehr angenehm zu lesen. Dieser Schreibstil ist sehr wichtig für die Geschichte, weil schon der ganze Rest schwer zu verdauen ist - da wäre es zu viel gewesen, sich auch noch mit einem anstrengenden Stil herumzuschlagen. Irgendwie schafft es die Autorin immer wieder, mich in diesem Buch zu faszinieren. Der Schreibstil enthält unzählige gelungene Metaphern, Vergleiche und sprachliche Bilder, so dass man immer wieder über tolle, einprägsame Zitate stolpert.

Die Personen sind alle schwer greifbar. C zum Beispiel wirkt wie eine leere Hülle, ein vom Fernsehen besessener Zombie. Um As Gefühle und Gedanken kümmert er sich kaum, er tut ihre Ängste und Fragen mit belanglosen, augenscheinlich beruhigenden Floskeln ab. B ist durch ihre extreme Anhänglichkeit stellenweise richtig unheimlich, fast wie ein Stalker. Einzig A kann man als Leser ein bisschen vertrauen. Auch sie stellt zwar massenhaft verrücktes Zeug an und verhält sich immer wieder unverständlich, doch da die Geschichte aus ihrer Sicht geschrieben ist, erfährt man wenigstens stets die Gründe für ihr Verhalten. Wer ungewöhnliche Protagonisten mit verqueren, sonderbaren, merkwürdigen Gedanken schätzt, wird A lieben.


„Nichts sonst hatte den immensen Hunger eines Hais, nichts sonst war so effektiv darin, seinen Hunger zu stillen. Es war so wunderschön, dass ich das Gefühl bekam, dazugehören zu müssen, obwohl ich wusste, dass es mir verwehrt bleiben würde, jemals ein Hai zu werden.“ Seite 61


Schon beim Lesen der allerersten Rezensionen, wurde mir klar: Dieses Buch polarisiert, wie schon lange nichts mehr polarisiert hat. Die Meinungen gehen vollkommen und ganz weit auseinander. Das wundert mich nicht, da es sich hier nicht um einen gewöhnlichen, leicht lesbaren Unterhaltungsroman handelt. Viele Dinge, die man als Leser von einem Buch erwartet, die man sogar voraussetzt (spannende Handlung mit Wendungen, dreidimensionale Figuren, logisches Verhalten) werden einem hier einfach vorenthalten, die Autorin ist mutig genug, diese Idee durchzuziehen und verschiedenste Regeln einfach zu brechen und mit den Erwartungen des Lesers zu spielen. Niemals weiß man, wohin alles führen wird und fühlt sich oft verwirrt und orientierungslos in dieser fremdartigen Welt, die die Autorin erschaffen hat.

Eine Sache, die verständlicherweise viele enttäuscht, ist, dass in dieser Geschichte kaum Handlung gibt. Vor allem die erste Hälfte des Buches setzt sich hauptsächlich auch Alltagsbeschreibungen von As Leben zusammen. Nur selten empfand auch ich das fehlende Tempo und die fehlende Spannung als langatmig – die meiste Zeit war ich einfach nur fasziniert und gleichzeitig beunruhigt von der Seltsamkeit dieses Romans.

Das verrückteste Buch, das ich jemals gelesen habe, war bis vor wenigen Wochen „Bleeding Violet“, ein Fantasy-Roman mit magischen Wesen. Doch „A wie B und C“ stellt dieses Buch vollkommen in den Schatten. Die Autorin spielt mit unseren Erwartungen und mit unserem gesunden Menschenverstand. Viele Konventionen und Regeln unserer Welt gibt es in diesem Paralleluniversum nicht - das irritiert, verwirrt, macht in seiner Unberechenbarkeit Angst.

Sehr viele verschiedene Themen, werden in diesem Buch angesprochen:

**Leichte Spoiler!**


Ein zentrales Thema dieses Romans ist das Essen. Immer wieder beschreibt die Autorin Vorgänge wie das Essen einer Orange ungewöhnlich detailliert. Fast wirkt es als würde sie mit einer kleinen Kamera in ihren Mund fahren und dann die Vorgänge beschreiben, die sie sieht (das Aufplatzen der kleinen Zellen der Frucht zum Beispiel). Alleine das wirkt schon ziemlich befremdlich. Doch das ist noch lange nicht alles. Die Ernährungformen, die beschrieben werden, sind alles andere als gesund und normal. So ernährt sich A zum Beispiel über Tage nur von Orangen und ihre Mitbewohnerin B von fast nichts anderem als packungsweise Wassereis, weil man dabei beim Verdauen angeblich schon mehr Kalorien verbraucht, als man aufnimmt. Ihren Gipfel findet diese Entwicklung schließlich in der „Kirche der Vereinigten Esser“, einer Sekte, die alle Lebensmittel in „hell“ und „dunkel“ einteilt und ihren Mitgliedern nur noch das Verzehren der angeblich reinen „Kandy Cakes“ erlaubt – einer synthetischen, aus Kunstoffen bestehenden Süßigkeit. Immer wieder werden Werbespots der Candy Kakes im Detail beschrieben. Es handelt sich hier um teilweise alptraumhafte Szenen, die mit Slogans wie „Wir wissen, wer du wirklich bist.“ unterlegt sind. In den Spots versucht Candy Cat (eine Katze) stets die Süßigkeit zu fressen, scheitert jedoch immer wieder auf grausame, beunruhigende Art. Einmal frisst ein Cake zum Beispiel einfach Candy Cat auf.

Das Fernsehen ist auch ein sehr wichtiges Thema in diesem Buch. C schaut ständig fern, und kümmert sich eigentlich um nichts anderes. Am liebsten schaut er Pornos, Haifischdokumentationen und eine Show namens „Das ist mein Partner“, in der sich Paare gegenseitig anhand von Körperteilen erkennen müssen. Der kranke Haken: Schaffen sie die finale Runde nicht, gewinnen sie nicht nur kein Geld, sondern werden gezwungen, sich zu trennen.

Weitere seltsame Dinge, die in diesem Buch vorkommen und ebenso genial wie verstörend sind: Wally‘s, ein Supermarkt, in dem die Produkte auf eine möglichst verwirrende Weise angeordnet sind (alle paar Stunden wird umgeräumt), um die Kunden dazu zu bringen, länger im Geschäft zu bleiben und auf dem Wege mehr einzukaufen. Die Mitarbeiter im Laden dürfen niemals helfen, den Weg zu einem Produkt zu finden, sondern empfehlen stattdessen Dinge, die gut zum Gesuchten passen. Diese Szenen sind sehr frustrierend und befremdlich zu lesen, weil dieses Verhalten so derart seltsam ist, es aber gleichzeitig von allen akzeptiert wird. Dann gibt es noch Michael, der durch seinen Wunsch, Kalbfleisch vor Konsumenten zu retten, immer mehr davon kauft und es schlussendlich selbst isst, als er keinen Platz mehr in seiner Kühltruhe hat.

Auch unheimlich ist B, die unglaublich abhängig von A ist und auf mich wirkt, als hätte sie Depressionen. Immer wieder scheint sie wie ein Kind – wenn A ihr nichts zu essen macht, isst sie einfach gar nichts und starrt nur stundenlang die Wand an. Dazu versucht B alles zu tun, um immer mehr wie A auszusehen – sehr zum Schrecken dieser. Ein weiteres wichtiges Thema ist folglich die Frage nach der eigenen Identität. Was macht A zu A? Wodurch unterscheidet sie sich von allen anderen Menschen? Wie A immer wieder betont, sind wir schließlich im Inneren (selber Körper, nur die äußerste Schicht unterscheidet uns) alle gleich. Gerade weil A sich ihrer Identität so unsicher ist, macht ihr Bs Wunsch, auszusehen wie sie, Angst. Sie hat die Befürchtung, dass sie so eines Tages ununterscheidbar sein könnten. Vor dem Spiegel sieht A immer eine Fremde. Wenn sie ungeschminkt ist, ist ihr dieses Gesicht fremd, weil sonst immer geschminkt ist, aber auch wenn sie geschminkt ist, weiß sie, dass das nicht wirklich ihr echtes Gesicht ist.


**Spoiler Ende!**


Die Autorin nutzt diese Geschichte, um uns einen Spiegel vorzuhalten. Wir (viele von uns) sitzen oft wie Zombies vor dem Fernseher, lassen uns durch Werbespots und Trends manipulieren, suchen unsere Identität, kontrollieren teilweise exzessiv die Kalorien unserer Lebensmittel. Extreme Reality-Shows, in denen Menschen gedemütigt und „gequält“ werden, gehören zu unseren liebsten Beschäftigungen.

In diesem Buch wird der fündig, der sich Zeit nimmt und zwischen den Zeilen liest. Wer sich auf diese Welt einlassen kann und darüber nachdenkt, wird dort intelligente, unglaublich kreative (Wie kommt man auf so etwas?), spannend gemachte Gesellschaftskritik erkennen. Wenn man anfangen würde, dieses Buch zu analysieren und interpretieren, würde das wahrscheinlich ziemlich lange dauern. Dennoch bleiben am Ende auch ohne detaillierte Analyse viele Fragen offen: Sind A und B (und C?) wirklich verschiedene Seiten ein- und derselben Person, wie viele glauben? Was will uns die Autorin mit den einzelnen, teils verwirrenden Szenen sagen? Die Antworten auf diese Fragen muss jeder Leser für sich selber finden, denn mit vorgefertigten Antworten wird man hier nicht gefüttert.


Mein Fazit

Seltsam, faszinierend, beunruhigend, befremdlich, verstörend.

Ein Roman, der unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält und zeigt, wohin unsere Besessenheit von Trends, unserem Körper und Reality-Shows führen kann. Diese verstörende Parabel enthält viele Wahrheiten und intelligente Gesellschaftskritik. Nur selten ist die Geschichte langatmig. Die meiste Zeit über ist sie auf verrückte Art genial und faszinierend und fordert auf, zwischen den Zeilen zu lesen.

Empfehlung: Ich empfehle dieses Buch allen, die bereit sind, alle ihre Erwartungen über Bord zu werfen und sich auf etwas vollkommen Neues und Seltsames einzulassen.


Übersicht

Stärken:

* Schreibstil (flüssig, modern, angenehm, viele Metaphern)
* Protagonistin (ungewöhnlich, seltsam, interessant)
* Personen (schwer greifbar, aber dabei faszinierend)
* enthält tolle Zitate
* gesellschaftskritisch, Parabel auf Konsumgesellschaft, Werbeindustrie, Religion, Ernährung, Identitätsverlust, Reality-Tv,
* unglaublich kreativ
* verstörend, bringt zum Nachdenken


Schwächen:

* selten langatmig


Erzählstil: Ich- Erzähler; Präteritum;
Perspektive: aus weiblicher Sicht

Bewertung:

Idee: 5 Sterne ♥
Ausführung: 4,5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne
Personen: 5 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥

Zusatzkriterien bei diesem Buch:

Bringt zum Nachdenken: 5 ♥
Spannung: 3,5 Sterne


Insgesamt:

❀❀❀❀,5

Ich vergebe 4,5 Lilien!


Ist dieses Buch Teil einer Reihe? – Nein.