Die Vergangenheit so dunkel wie die Gegenwart

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juma Avatar

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Adama ist schwer zu bewerten. Ein Buch voller Blut, Gewalt, Liebe, Rache, Tränen und Verrat. Ich habe vom Autor Lavie Tidhar bisher noch nichts gelesen, aber von seinem preisgekürten Bestseller aus dem letzten Jahr habe ich natürlich schon gehört. Tidhar nimmt in seinem neuen Krimi wiederum die Geschichte Israels ins Visier.
Beginn und Ende des Romans schließen die Geschichte ein wie eine Schraubzwinge, Hanna verliert ihre Mutter Esther an den Krebs, ihr Erbe ist eine alte Teeschachtel mit Fotos. Sie verlässt mit dieser Schachtel die Wohnung der Mutter, und es entfaltet sich danach ihre Familiengeschichte anhand von Episoden, die nicht in zeitlicher Reihenfolge erzählt werden, aber alle ineinander übergehen wie Zahnräder. So lernt man zuerst Lior kennen, den Enkel von Ruth. Ruth ist eine ungarische Jüdin, die wie ihre Schwester Shoshana den Holocaust überlebte und in Israel, im Kibbuz Trisham, nach dem Krieg einen Neuanfang wagt. Der Unterschied zwischen beiden ist die Tatsache, dass Ruth vor den Nazis rechtzeitig aus Budapest fliehen konnte, Shoshana und die Familie aber verraten und nach Auschwitz deportiert wurden. Shoshana überstand Auschwitz, die Eltern wurden ins Gas geschickt. Der Bruder Yehoyakim ist vorerst verschollen. Auf ganz unterschiedlichen Wegen und mit großen Schwierigkeiten verbunden kommen alle drei nach Palästina. Besonders Shoshanas Erlebnisse im DP-Lager und auf der Überfahrt sind haarsträubend und erschreckend. Sie kommt mit einem furchtbaren Geheimnis in die neue Heimat. Aber auch Ruth hat ihre Geheimnisse und tragischen Momente.
Das Leben, das für die Kibbuzbewohner völlig normal war, ist für den Leser, der über diese Lebensform, die einer kommunistisch-maoistischen Weltanschauung zugrunde liegt, nur wenig weiß, sehr schwer zu begreifen. So ist es nicht verwunderlich, dass Kinder derer, die die Kibbuzim aufbauten und am Leben erhielten, sich abwenden wollen, aufbegehren und zum Teil auch kriminell werden.
Die notwendigste Erzählung im Roman gilt jedoch der blutigen Geburt des Staates Israel. Das Buch endet 2009, aber die Probleme, die wir heute laut und deutlich jeden Tag in den Nachrichten hören, sehen, lesen, die sind eher schrecklicher geworden. Das Palästinenserproblem ist nicht gelöst, die Siedlungspolitik Israels fordert Kritik und Gegenwehr geradezu heraus usw. Die Ereignisse des 7. Oktober 2023 hätten auch in den Roman einfließen können, aber er endet ja 2009, trotzdem spürt man das Massaker als bedrohliches Wissen, als eine Art Vorahnung auf jeder Seite. Im Roman kann man die Entwicklung dorthin minutiös beobachten. Auge um Auge.
Trotzdem hat der Roman anziehende und wohl austarierte Szenen der Liebe, auch der Liebe zu den Kindern. Ruth hat immer wieder das Bedürfnis, ihren kleinen Yoram an sich zu drücken, zu küssen und ganz für sich zu haben. Das ist konträr zum Kibbuz-Reglement. Die Kinder sind im Kinderhaus, fern von einem heimeligen Zuhause. Und so muss Ruth immer wieder Stärke zeigen, Herzlosigkeit, Hass, Vergeltungsfantasien beeinflussen ihr alltägliches hartes Dasein. Diese Härte zieht sich durch das ganze Buch, Ruth kann nicht mehr weich werden, nur schwach und alt.
Der Roman entwickelt einen fatalen Sog, ich konnte ihn zum Schluss kaum aus der Hand legen. Einige Rezensenten bezweifeln, ob es ein Thriller ist. Ich neige zu einem Ja, auch wenn es ein Roman mit tiefem historischem Hintergrund ist, hat Tidhar wesentliche Handlungsstränge als Thriller angelegt. Seien es die Erlebnisse von Shoshana im DP-Lager oder Ruths Rachegelüste oder Liors Vergeltungsaktion, immer fließt Blut, ist Gewalt vordergründig. Und das sind nur einige Beispiele.
Aber ich sehe das Buch auch als einen historischen Roman an, es wird vieles angerissen, die vielen Kriege, Attentate, Israel, das Land, das seit seiner Gründung nicht zur Ruhe kommt. Israel, in dem Adama jedem Israeli ins Herz und Hirn gebrannt ist. Zitat: „»Es gibt kein A-d-a-m-a ohne d-a-m«, hatte ihr [Shoshanas] erster Lehrer stolz erklärt. »Dam« war Hebräisch und bedeutete Blut. Kein Land ohne Blut.“
Normalerweise findet man in einem Roman immer eine Lieblingsfigur, einen Protagonisten, mit dem man sich identifizieren kann. Das gelang mir nur teilweise. Shoshana, genannt Shosh, war es für mich geworden. Sie, die so hart gegen andere und sich selbst ist, zeigt in der schwierigsten Episode ihre Menschlichkeit. Das hat mich sehr gerührt.
Aber da sind auch Moritz, ihr Freund aus dem Lager, Yael, ihre Tochter, oder Ophek, der Zauberer, ihr Neffe, Esther, die so gern weit weg wäre, Yoram, Dov, Danny, jeder mit einer Geschichte, die für mehr als einen Menschen reichen würde. Tidhar ließ mich alle kennenlernen, bewundern oder verabscheuen. Ruth bildet immer den Mittelpunkt, egal ob geliebt oder gehasst. Ich konnte sie nicht mögen, allein die Vorstellung, dass meine Mutter in einem solchen Kibbuz unter dem Regime von einer solchen Ruth hätte leben müssen, bringt mich um den Schlaf. Meine Mutter ist 1945 nicht ausgewandert, sie blieb in Deutschland, vor allem, weil sie nicht hebräisch konnte. Nach der Lektüre dieses Buches kann ich nur sagen: Welch ein Segen.
Der Autor machte es mir auch nicht gerade leicht mit seinen vielen – oftmals miteinander verwandten – Protagonisten, mit den schnell wechselnden Ereignissen und den Geheimnissen, die sich immer und überall verbargen. Ein Personenregister zu Beginn hätte die Verwirrung etwas mindern können. Auch einem Thriller hätte am Ende als Anhang ein kurzer geschichtlicher Abriss mit den wichtigsten Daten Israels gutgetan. Obwohl ich mich oft und eingehend mit Israel, dem Holocaust und der jüdischen Geschichte beschäftige, habe selbst ich nicht alle Daten im Kopf. Einige Seiten Platz wären noch gewesen, wenn man auf die Anzeigen (außer auf die für „Maror“) verzichtet hätte.
Das Coverbild und die gesamte Covergestaltung gefallen mir gut, aus Blut und Gewalt sehe ich ein Land wachsen, das ich sehr liebe und verehre. Der Zitate von Junot Díaz und Catriona Ward hätte es nicht bedurft, ich habe schon nach dem Lesen der Verlagsankündigung gewusst, das ist „mein“ Buch. Dass die Lobeshymnen dann auch noch auf der Rückseite des Umschlags weitergehen, ist überflüssig, erinnert an amerikanische Krimis, bei denen oftmals die ersten Seiten der Bücher mit solchen Lobeshymnen bedruckt sind oder dem Titelbild kaum noch Platz geben. Da hätte eine kurze Inhaltsangabe mehr Wirkung gehabt.

Fazit: ein historischer Roman, ein Familienroman, ein harter Thriller – das alles ist Israel, das ist Adama. Lesenswert, empfehlenswert, aber nichts für schwache Nerven.