Lavie Tidhar schreibt gegen den Gründungsmythos. Warum?

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Kurzmeinung: Mir fehlen die Worte … einseitige unbarmherzige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Der Roman gehört zu der sogenannten Maror-Trilogie: Maror – Adama – Golgatha. Adama ist ein Synonym für Heimat, für den heiligen Boden aus dem der Mensch gebildet wurde, ein Begriff, der eine enge und eine religiöse Heimatverbundenheit bezeichnet. In seinem Roman „Adama“ beleuchtet der 1976 geborene israelische Schriftsteller unter anderem die Zeit 1945 bis 2009, Israels Entstehungsgeschichte.

Seine Hauptfigur ist weiblich, Ruth. Sie ist eine Holocaustüberlebende, im Buch eine besessene Sabra, die für ihr neues Land kämpft und dabei bereit ist, über Leichen zu gehen.

Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Um es gleich vorwegzusagen, mein Leseerlebnis ist negativ. Es wundert mich nicht, dass die Romane Tidhars bisher kaum auf Hebräisch erscheinen, mir kommen Worte wie Landesverrat und Nestbeschmutzung in den Sinn – eine rein emotionale Reaktion!
Die Figuren Lavie Tidhars, er verfolgt eine Familie und deren Verzweigungen durch drei Generationen hindurch, werden ermordet. Lavie Tidhar verfährt gnadenlos. Nun, in der Tat, die Geschichte ist oft so: gnadenlos. Insofern habe ich nichts zu meckern. Im Hintergrund spielt permanent die Musik der Gründerzeit Israels und die turbulenten Anfänge des Landes.
Nun, von Anfang an war die Geschichte Israels blutig. Wenngleich Theodor Herzl als Vordenker schon im ausgehenden 19. Jahrhundert die Idee eines eigenen jüdischen Staates aufbrachte und nachdrücklich verfolgte, war der letzte Anstoß zur Staatsverwirklichung im Nahen Osten, die Shoah, also ein Blutbad!
Nur dumm, dass im neuen Staatsgebiet schon Menschen lebten. Die Palästinenser. So weit. So gut. Geschichtlich Interessierte kennen die Fakten. Und wer sie nicht kennt, sollte sie kennenlernen.

In der Literatur, angefangen von Leon Uris mit „Exodus“ wird die Zeit der Staatsgründung und das Ringen um die Existenz Israels, die von Anfang an massiv bedroht gewesen ist, meistens positiv dargestellt. Davon weicht Lavie Tidhar ab.
Obgleich nie verschwiegen werden darf und sollte, dass in kriegerischen Auseinandersetzungen immer alle Seiten grausam sind und keiner davon frei gesprochen werden darf, Unrecht begangen zu haben, geht meines Erachtens Lavie Tidhar mit seiner dem Werk immanenten Gründungskritik zu weit. Er lässt kein gutes Haar an seinen Protagonisten. Ich erkenne Israels Überlebenskampf nicht wieder.

Was ich statt dessen serviert bekomme, sind hartherzige Menschen, die über die Leichen ihrer eigenen Verwandten gehen, die zu jedem unmenschlichen Schritt bereit sind, um ihr Land zu beschützen. Fanatismus und Besessenheit. Skrupellosigkeit. Wo sind die Zwischentöne?

Sicher, nicht alle, die heute in Israel Helden genannt werden, sind auch welche (gewesen). Dennoch missfällt mir die Abschlachterei in diesem Roman, der als Thriller daherkommt, es aber nicht ist – und ein historischer Roman ist „Adama“ auch nicht – und mir missfallen die einseitig negativen Protagonisten, die kaum einen guten Kern in sich tragen und keinerlei Innenleben haben. Ich verstehe sie nicht und ich verstehe den Autor nicht. Freilich, er als einer, der in Israel geboren ist, darf am ehesten Kritik üben. Ich würde sie mir freilich in weniger reißerischer Form wünschen, mit mehr Zwischentönen versehen, vor allem heute, 2025, in einer Zeit, in der Israel sowie schon in den Augen der Weltöffentlichkeit mit dem Rücken zur Wand steht.

Stil und Form: Der Autor erzählt meistens chronologisch rückwärts. Das geht in Ordnung. Sein Stil ist präzise, kurz, im Großen und Ganzen fließend und eloquent.

Seine Schreibweise krankt freilich an Kinderkrankheiten.

Kinderkrankheiten, die ein gutes Lektorat ausgemerzt hätte. 65 mal wird das Wort „Zigarette“ bemüht, das heisst, es wird wie am Schlot gequalmt – und ja, man hat viel geraucht! Das ist trotzdem kein Grund, die Zeilen mit „er/sie/es zündete sich eine an“ zu füllen, es sind Zeilenauffüller, keine literarische Meisterleistung: Im letzten Drittel wird dann weniger geraucht und dafür häufig tief Luft geholt. Hat hier der Lektor gewechselt? Die Luftschnapper sind immer noch Lieblingslektorphrasen! Mein „Anti-Lieblingssatz“ lautet jedoch: „Sie hatte einen Geschmack im Mund als wäre eine Maus darin gestorben“. Hier muss ich laut lachen! Davon abgesehen, kann der Autor dennoch etwas. Die Komposition ist gut. Stilistische Ausbrüche gibt es selten, aber die Erwähnten sind leider schwerwiegend.

Fazit: Nein, ich habe mich nicht amüsiert. Kein bisschen. Über die Geschichte Israels habe ich höchstens peripher etwas erfahren. Die Einlassungen des Autors halte ich für völlig überzogen, der Vermarktung geschuldet, den israelkritischen Zeitgeist bedienend. Meisterwerk? Keinesfalls.

Kategorie: Unterhaltung
Verlag: Suhrkamp 2025