Mehr als ein Thriller: Eine Familiengeschichte, ein politisches Dokument, ein literarisches Mahnmal

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gaudbretonne Avatar

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Nicht umsonst wurde Adama von der Times zu einem der „besten historischen Romane 2023“ gekürt. Was vordergründig als Thriller vermarktet wird, entpuppt sich schnell als literarisch und historisch hochkomplexer Familienroman, der über vier Generationen hinweg das Leben einer jüdischen Familie erzählt – eingebettet in die gewaltgesättigte, oft widersprüchliche Geschichte des Staates Israel.

Tidhar gelingt mit Adama ein Werk, das sich gängigen Genre-Kategorisierungen entzieht und gerade deshalb so eindrucksvoll wirkt: Es ist spannend wie ein Politthriller, aufrüttelnd wie ein Sachbuch, dabei emotional und tiefgründig wie ein klassischer Familienroman.

Inhalt: Eine Suche nach Herkunft, Identität und Schuld
Der Roman setzt im Jahr 2009 ein, im Wohnzimmer einer sterbenden Frau in Florida. Esther stirbt im Beisein ihrer Tochter Hanna. Eine Holzkiste mit alten Fotos, ein Aschenbecher mit der Aufschrift „Palästina“ und ein Filmfragment lösen eine Spurensuche aus, die die Leserschaft zurückführt in die Anfänge des Staates Israel.
Im Zentrum der Familiengeschichte steht Ruth, eine jüdische Überlebende aus Budapest, die 1946 im britischen Mandatsgebiet Palästina ankommt und dort den Kibbuz Trashim aufbaut. Ruth verkörpert den zionistischen Traum, doch zugleich steht sie exemplarisch für die Ambivalenzen dieses Projekts: Mit eiserner Entschlossenheit unterordnet sie Familie, Emotionen und Moral ihrem Ziel. Ihre Schwester Shosh, traumatisiert aus den Konzentrationslagern, ist ihr moralisches Gegenbild – leise, verletzlich, aber nicht weniger gezeichnet. Shosh heiratet Ruths früheren Geliebten Dov, mit dem sie die Tochter Jael bekommt – Hannas spätere Großmutter. So verwebt Tidhar auf kunstvolle Weise persönliche Tragödien mit historischen Umbrüchen.

Das titelgebende Adama – Hebräisch für „Erde“, aber auch mit dem biblischen Begriff für „Blut“ assoziiert – zieht sich wie ein semantisches Leitmotiv durch den Roman: Das Land Israel, um das so viele kämpfen, blutet. Und die Gewalt, die damit einhergeht – sei sie physisch, strukturell oder psychologisch – hinterlässt Spuren in jeder Generation.

Komposition: Fragmentarisch, rückwärts erzählt, brillant verdichtet
Formal überzeugt Adama durch eine raffinierte Struktur. Tidhar erzählt nicht chronologisch und arbeitet mit wechselnden Perspektiven und Zeiten. Der Leser beginnt am Ende (2009) und arbeitet sich zurück zu den Wurzeln der familiären (und nationalen) Katastrophen (bis 1946). Die Fragmentierung ist nicht willkürlich, sondern spiegelt die zersplitterte Erinnerung, die persönliche wie kollektive Amnesie und das Bedürfnis nach Rekonstruktion.
Dabei wird niemals alles erklärt – Tidhar überlässt es seinen Lesern, Lücken zu schließen, Bedeutungen zu entschlüsseln und historische Kontexte zu durchdringen. Das macht die Lektüre anspruchsvoll, aber nie unzugänglich. Es ist ein Roman, der Vertrauen in seine Leser*innen setzt – sowohl in deren Wissen als auch in deren Bereitschaft, sich mit Unbequemem auseinanderzusetzen.
Besonders wirkungsvoll sind wiederkehrenden Erinnerungsobjekte – z.B. eine Holzkiste, ein Lied, ein Film – die als Anker in der Zeit dienen und die Generationen miteinander verbinden. So entsteht trotz der nichtlinearen Erzählweise ein Gefühl der Kontinuität – und der Zwangsläufigkeit von Wiederholung: Gewalt gebiert Gewalt, Trauma wird vererbt.

Erzählverhalten und Stil: Klar, präzise, mit dokumentarischer Wucht
Tidhars Sprache ist schnörkellos, oft hart, mitunter lakonisch – beeinflusst vom Stil moderner Thrillerliteratur, aber durchdrungen von einer literarischen Tiefe, die an große Familienepen erinnert. Er verzichtet auf Pathos, ohne Empathie zu verlieren, und setzt auf die Kraft des Ungesagten. Besonders Ruths Figur wird nicht durch psychologisierende Innenschau erschlossen, sondern durch Handlungen und Reaktionen – eine literarische Technik, die ihrer Unnahbarkeit Rechnung trägt und sie zugleich vielschichtiger erscheinen lässt und gleichzeitig einen kritischen Blick auf alles zulässt.
Das Erzählen bleibt durchweg personal, wechselt jedoch zwischen verschiedenen Figuren und Zeiten. Damit entsteht eine dichte Struktur, die Raum schafft für unterschiedliche Sichtweisen: die der Zionistin Ruth, der Holocaust-Überlebenden Shosh, des zweifelnden Enkel Lior oder der suchenden Hanna. Keine dieser Stimmen wird moralisch überhöht – sie existieren nebeneinander und offenbaren die Widersprüche der israelischen Geschichte, ohne einfache Antworten zu liefern.

Ein Roman, der seine Leser ernst nimmt – und fordert
Adama ist ein Roman, der sich nicht in simplen Narrativen von Schuld und Unschuld verliert. Er zeigt, wie sehr die Gründung Israels auf Schmerz und Gewalt basiert – sowohl der erfahrenen als auch der ausgeübten. Der Holocaust liegt wie ein Schatten über allem, doch gleichzeitig wird das Leid der Palästinenser nicht verschwiegen. Tidhar deutet die historischen Brüche an, benennt Enteignungen, Vertreibungen, systematische Gewalt – sein Schreiben ist weder moralisierend noch neutral, sondern radikal ehrlich.
Dass der Autor dabei keine mythologisierte israelische Gründungserzählung liefert, sondern die Widersprüche dieser Nation freilegt, ist mutig und von großer politischer Relevanz – gerade angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in Nahost.

Fazit: Ein Meisterwerk zwischen Geschichte und Fiktion
Lavie Tidhar hat mit Adama meines Erachtens einen der vielschichtigsten, bewegendsten und wichtigsten israelischen Romane der letzten Jahre vorgelegt. Wer bereit ist, sich auf eine anspruchsvolle Erzählweise einzulassen, wird mit einem Text belohnt, der politisch wie literarisch gleichermaßen überzeugt. Adama ist ein Roman über Identität, Erinnerung, Gewalt, Gemeinschaft und das verzweifelte Ringen um Heimat – in all seinen Ambivalenzen.

P.S.: Tidhars Thriller Maror habe ich bereits bestellt und warte jetzt ungeduldig auf seine Ankunft....