Toller Jugendroman über ein ungewöhnliches Thema

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Kinder, die auch in einem Erste-Welt-Land in die Obdachlosigkeit geraten und heimatlos werden, sind ein ungewöhnliches, aber wichtiges Thema für ein Jugendbuch. Die Kanadierin Susin Nielsen hat hier liebevoll und emotional geschrieben. Das Cover gibt sowohl den Inhalt wie auch diese Haltung wunderbar wieder.

Inhalt

Das hört sich doch nach einem tollen Abenteuer an: mal  vorübergehend in einem coolen Camping-Retro-VW-Bus aus den 70igern durchs Land (Kanada!) zu tingeln, oder? Der 12 ¾ Jahre alte Felix findet diese Aussicht auch zunächst „magisch“ als seine alleinerziehende Mutter Astrid im August mit ihm in den Bus übersiedelt.  Doch der Rundreise-Traum ist aus finanziellen Gründen rasch zusammengestrichen zu kleineren Touren rund um das heimische Vancouver. Aber noch ist es ein spannendes Sommerabenteuer.

Felix‘ 44-jährige Mutter Astrid, schwedisch-stämmige kanadische Künstlerin, hält sich mit Kunstunterricht und mit kleinen Nebenjobs im teuren Vancouver über Wasser. Sie hat es in letzter Zeit nicht leicht gehabt. Die  Erbschaft von Felix‘ verstorbener Oma ließ gerade eben eine Anzahlung auf eine Eigentumswohnung zu. Doch das Glücksgefühl von Mutter und Sohn sackt in die Tiefe: denn um einen Bauschaden zu sanieren, werden alle Eigentümer massiv zur Kasse gebeten. Das kann sich Astrid nicht leisten und muss mit Verlust verkaufen.
Nun dreht sich die Abwärtsspirale immer schneller. Von einer 2-Zimmer-Mietwohnung bis zur Ein-Zimmer-Keller-Wohnung, ständige Schulwechsel für Felix, Jobverlust, Abhängigkeit von unguten Männerfreundschaften rutscht Astrid am Ende zum Stempel OFW – ohne festen Wohnsitz – und zieht Felix mit sich. Während der Ex sich auf eine spirituelle Reise nach Indien begibt, gehen Astrid und Felix auf Tour mit dem Heim auf Rädern. Sehr lustig, solange die Ersparnisse noch reichen…

Zu dem Wenigen, was Felix mitnehmen kann, gehört als Glücksbringer der schwedische „Tomte“ und seine Rennmaus Horatio, die er nach dem Moderator seiner Lieblingsquizsendung benannt hat.

"Astrids Ratgeber für Lügen aller Art"

Felix versteht sich ja mit seiner Mutter ganz gut, wenngleich er manchen ihrer „Eigenarten“ eher kritisch gegenüber steht. So sortiert er ihren recht kreativen Umgang mit der Wahrheit in verschiedene Gruppen: Die Unsichtbare Lüge, die Gib-dem-Frieden-eine-Chance-Lüge, die Beschönigungslüge, die Tut-keinem-weh-Lüge und die Jemand-könnte-ein-Auge-verlieren-Lüge. So ist die letztere Sorte, die

„Schlimmste Art von Lügen, die das Potenzial hat, dem Lügner, dem Belogenen oder beiden wehzutun. „(S. 39)

Astrid möchte von ihrem Sohn beim Vornamen gerufen werden, denn „Mom“ wäre zu hierarchisch. Dafür tituliert sie ihn gelegentlich schwedisch mit „Lilla Gubben“ (dt. kleiner alter Mann). Das hat was, denn Felix ist schon gereifter als sie denkt.

Felix kann endlich nach den vielen Schulwechseln eine neue Schule mit dem gewünschten Französisch-Intensivprogramm besuchen. Dort trifft er seinen alten Freund Dylan wieder und gewinnt zusätzlich als neue Freundin die etwas kratzbürstige und sehr strebsame Winnie Wu. Gemeinsam mit ihnen übernimmt er den französischsprachigen Teil der Schülerzeitung.

Felix verschweigt allen seine Wohn- und Lebensverhältnisse, die ihn z.B. zwingen, sich  im örtlichen Gemeindezentrum oder notfalls auf der Behindertentoilette in der Schule zu waschen.
Klar, dass er das wilde und herzliche Familienleben von Dylan oder das kleine, aber gepflegte, liebevolle Heim von Winnie sehr schätzt und oft zu Besuch dort ist.

Das Leben im Bus wird beschwerlicher. Astrid verliert durch ihre schwierige Art oft ihre Jobs und fällt tagelang in emotionale Krisen, die Ernährung aus Dosen wird knapper, das Wetter zunehmend kühler, die Stimmungskurve sinkt. Felix merkt, dass diese Art zu leben, nicht gut für ihn ist.

„Ich hatte Sehnsucht nach einer Toilette.
Und ich hatte Sehnsucht nach meinem Dad.“ (S. 79)

Doch da blinzelt ein Hoffnungsschimmer. Felix darf in der neuen Junior-Version seiner Lieblingsquizshow im Fernsehen teilnehmen. Es lockt ein lukrativer Geldpreis – und Felix ist sehr schlau und quizgeübt… Der Gewinn könnte die beiden aus der Obdachlosigkeit herausholen, so hofft Felix. Was aber auf jeden Fall sicher ist: Felix kann sich auf seine beiden Freunde verlassen!

Fazit

Aus der Sicht von Felix wird hier auf spannende, oft witzige und immer einfühlsame Art mit der Obdachlosigkeit umgegangen. Trotz der bedrückenden und schweren Thematik wird diese hier mit leichter Hand und viel Herz aufgegriffen. Denn die Protagonisten bleiben Kinder, die Spaß haben wollen, sich engagieren und spielen.

Die Kindercharaktere sind wunderbar einfühlsam dargestellt. Sie werden vielschichtig und sehr unterschiedlich in ihrer familiären und ethnischen Herkunft angelegt.

Diversität wird mit leichter Hand immer wieder eingeflochten, ohne dass sie gesondert thematisiert wird. So hat Felix Vater Daniel französische und haitianischen Wurzeln und ist schwul. Felix‘ Freunde stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Winnie ist asiatischer Herkunft.

Die Autorin fokussiert sich auf das Thema der Heimatlosigkeit. Auch bei den Protagonisten sind da keine weiteren besonderen Traumata im Hintergrund oder spezielle Teenagerangelegenheiten nötig.
Denn die Begleitumstände der Obdachlosigkeit und zunehmenden Verwahrlosung sind eindrucksvoll und groß genug für ein Kind, das damit umzugehen hat. Da sind der schlechte Geruch, da kein Bad vorhanden ist, Tage mit Hunger, Scham vor seinen Freunden, die man nach der Schule nicht zu sich mitnehmen kann etc. .
Wenn man genau hinschaut, bemerkt man bei Felix zunehmende Stresssymptome (Schluckauf, wenn er gestresst ist oder Angst hat, das  Zählen und Rezitieren von Listen, wenn er Stabilität benötigt).

Die Schwächen der Mutter Astrid werden nicht beschönigt. Sie hatte eine schwierige Kindheit, die vermutlich die Ursache ihrer depressiven Krisen sind. Während sich Astrid in diesen Krisentagen ins Bett zurückzieht, muss Felix das Kommando übernehmen. Am Ende investiert Astrid ihr letztes Geld anstatt in ihre notwendigen Medikamente lieber in Essen für ihren Sohn.

Felix Mutter verliert oft ihren Job und findet stets einen Grund, warum die anderen Schuld daran tragen.  Felix steht der Tatsache, dass seine Mutter stiehlt, betrügt und lügt sehr kritisch gegenüber. Er führt sogar ein Kassenbuch über ihre Diebstähle, um später diese Schulden zu begleichen. Einerseits ist dies sehr bedrückend, aber andererseits spricht es für die Reife des bald 13jährigen, dass er seine Mutter darauf anspricht.

Menschlichkeit

Auch wenn die  anderen Menschen nur langsam bemerken, dass etwas nicht stimmt, trifft Felix doch immer wieder auf Menschen, die ihm helfen wollen. Das staatliche Unterstützungsprogramm scheint immer noch verbesserungswürdig. Da sind private Hilfen wertvoller.
Meine Lieblingsstellen sind jene, die um den Lebensmittelhändler Mr Ahmadi, einem syrischen Flüchtling, kreisen. Die Ahmadis wissen, was Hunger und Heimatlosigkeit, Scham und Würde bedeuten und erkennen die Situation des Kindes sofort. Sie sind es auch, die tatkräftig helfen.

Eine Geschichte, die mit Licht, Hoffnung und menschlicher Wärme endet. Absolut gelungen.
Leseempfehlung für Jugendliche ab 11 Jahren und auch für Erwachsene!