Alice, wie Daniel sie sah

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naraya Avatar

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Handlung:

Daniel ist obdachlos. Tag für Tag zieht er durch die Straßen von London und sammelt dort alle möglichen Dinge vom Boden auf. Denn was für andere bloß Abfall ist, hat für Daniel eine ganz eigene Bedeutung. Sein Blick auf die Welt ist besonders, denn jeder Buchstabe hat für ihn eine ganz bestimmte Farbe. Und so sucht er nach eisblauen, goldenen, rosafarbenen, dunkelblauen und grauen Dingen, weil sie den Namen seiner Tochter bilden: Alice. Schon seit Jahren hat Daniel Alice nicht mehr gesehen, doch vor vielen, vielen Jahren hatte er eine kurze, aber unbeschwerte Zeit mit ihrer Mutter. Jeden Tag wartet er seitdem darauf, dass ihm Alices Name in einer Zeitung begegnet und ihm so vielleicht ihren Aufenthaltsort verrät. Inzwischen hat seine Tochter selbst mit anderen Dingen zu kämpfen.

Eigene Meinung:

Das Cover des Romans ist sehr stimmungsvoll und passt gut zum Inhalt der Geschichte. Vor der Silhouette Londons ist ein junges Mädchen zu sehen, das mit ausbereiteten Armen den Kopf in den Nacken wirft, um einem Schwarm Vögel nachzusehen. Das erinnert an eine der letzten Szenen im Roman und verdeutlicht gut, wie Alice im Buch beschrieben wird. Im Inneren des Buches fällt auf, dass jedem Kapitel eine Liste von 10 Dingen vorangeht. Diese Aufzählungen erklären nicht nur den englischen Titel, sondern sind auch ein besonders geschickter Kniff, um die Protagonisten zu charakterisieren oder bestimmte Handlungselemente zu erzählen, ohne sie tatsächlich in den Fließtext einbauen zu müssen. Diese Technik ist mir bisher noch nicht begegnet, ich finde sie aber einfach grandios. Denn gerade in diesen 10-Punkte-Listen erfahren wir sehr viel über Daniel und seine Tochter Alice, die abwechselnd die Geschichte in der Ich-Form erzählen.

Vater und Tochter sind sich, obwohl sie einander nicht kennen, unglaublich ähnlich. Beide sind von einem großen Freiheitsdrang geprägt. Daniel lebt aus diesen Gründen inzwischen auf der Straße, doch als er damals die Beziehung zu Alice Mutter hatte, war es eben diese Eigenschaft, die ihn für sie so attraktiv machte. Daniel war genau das Gegenteil des einengenden, immer in gleichen Bahnen verlaufenden Familienlebens, das sie bis dahin kannte. Doch am Ende entschied sie sich doch für die Sicherheit und Daniel blieb allein zurück. Auch Alice wirkt in ihrer Familie isoliert, weil sie anders ist, als ihre beiden Schwestern. Erst vor kurzem ist sie aus der Mongolei zurückgekehrt, wohin sie aus einer vertrackten Beziehung geflohen war. Die Weite, der Himmel, das einfache Nomadenleben – all das zog Alice magisch an, was niemand außer ihr nachvollziehen kann. Und jetzt steht sie vor ihrer schwierigsten Aufgabe: sich von dem todkranken Mann zu verabschieden, den sie ihr ganzes Leben als Vater gekannt hat.

Im Laufe der Handlung nähern sich Alice und Daniels Wege immer mehr an. Die ausweglos anmutende Suche des Obdachlosen hat eines Tages tatsächlich ein Ende, als der Zufall ihm Alice Adresse zuspielt. Doch soll er sich seiner Tochter tatsächlich offenbaren? Was hat er ihr schon zu bieten? Und immerhin hatte sie doch ihr ganzes Leben lang einen Vater, der gut zu ihr war – warum sollte sie ihn an ihrer Seite brauchen? Das sind Fragen, die sich Daniel zurecht stellt, seine Zweifel und Bedenken konnte ich gut nachvollziehen. Auf der anderen Seite hat es mich im Verlauf der Handlung sehr wütend gemacht, dass offensichtlich jeder außer Alice bescheid wusste, dass Cee und Tilly nur ihre Halbschwestern und ihr Vater gar nicht ihr richtiger Vater ist. Jeder Mensch hat doch ein Recht darauf, die Wahrheit zu finden – und vielleicht hätte Alice sich dann nicht so lange als Außenseiterin gefühlt.

Die Seiten fliegen beim Lesen nur so dahin und dennoch behält die Geschichte ihr ganz eigenes, sachtes Tempo. “Alice, wie Daniel sie sah” ist einer der wenigen Romane für Erwachsene, die ich in den letzten Monaten gelesen habe. Und immer wieder fallen mir deutlich die Unterschiede auf. Vieles im Roman bleibt ungesagt und unabgeschlossen – eine Sache, die mich eigentlich gar nicht zufrieden stellt. Im Allgemeinen bin ich kein Fan offener Enden, aber im Falle dieses Romanes will ich da mal eine Ausnahme machen. Denn trotz der Offenheit ist es ein gutes Ende. Ein Ende, das zwar eine Menge Fragen offen lässt, aber dafür etwas ganz Wichtiges im Raum stehen lässt: die Hoffnung.

Fazit: ein Roman der leisen Töne, der dennoch (oder gerade deswegen?) zu überzeugen weiß