Familiengeheimnisse

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buecherfan.wit Avatar

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Alice und Daniel sind die Protagonisten in Sarah Butlers Debütroman “Alice, wie Daniel sie sah.“ Alice ist Ende 20, reist ruhelos in der Welt umher und kommt gerade noch rechtzeitig aus der Mongolei zurück, um ihren sterbenden Vater Malcolm noch einmal zu sehen. Daniel ist ein etwa 60jähriger Obdachloser, der seit fast 30 Jahren nach seiner Tochter Alice sucht und überall geheimnisvolle Botschaften aus gesammelten farbigen Abfällen aller Art hinterlässt. Er ist Synästhet, d.h. er verknüpft normalerweise getrennte Sinneswahrnehmungen. Daniel verbindet Buchstaben mit Farben, und der Name Alice ist für ihn eisblau. Immer wieder schreibt Daniel mit seinen Fundstücken die Botschaft “Alice. Tochter. Liebe. Leid. Vater.“ und begreift erst spät, dass Alice sie gar nicht entschlüsseln kann.
Der Leser weiß schon frühzeitig von der Beziehung zwischen Julianne, der verheirateten Mutter von Alice, und dem Kunststudenten Daniel. Als Julianne schwanger wird, beendet sie die Beziehung, und Daniels Leben läuft aus dem Ruder. Die Todesanzeige für Malcolm ermöglicht eine Begegnung mit Alice bei der Beerdigung und später im Haus. Alice und Daniel lernen sich kennen, kommen sich näher, ohne dass Daniel ihr sagt, wer er ist. Wird Alice die Wahrheit am Ende erfahren? Will sie sie überhaupt wissen? Sie hat immer gespürt, dass es ein Geheimnis gibt, das ihr Vater und ihre deutlich älteren Schwestern vor ihr verbergen. Sie hat sich nie zu Hause gefühlt in ihrem Elternhaus, hat an der Liebe ihres Vaters gezweifelt. Hinzukommt, dass sie sich die Schuld am Unfalltod ihrer Mutter gibt, die starb, als sie die vierjährige Alice abholen wollte. Oder war es am Ende gar kein Unfalltod, sondern Selbstmord? Vieles bleibt in der Schwebe, bringt den Leser zum Nachdenken.
Erzählt wird die Geschichte kapitelweise wechselnd aus der Perspektive von Alice und Daniel, wobei jedem Kapitel eine 10-Punkte-Liste vorangestellt ist, die einiges über die Protagonisten und die Handlung verrät. Das zugrundeliegende Thema ist Liebe in all ihren Facetten, was im Originaltitel (“Ten Things I´ve Learnt About Love“) deutlicher wird als im deutschen Titel, der dem komplexen Roman durch seine Vereinfachung nicht gerecht wird. Das zweite wichtige Thema ist die zerstörerische Kraft von Geheimnissen, die – über Jahrzehnte gewahrt – das familiäre Klima vergiften.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Es stört mich auch nicht, dass nicht alles bis ins Letzte aufgeklärt wird. Die Autorin macht es wie ihre Figuren: Manches bleibt besser unausgesprochen.