Ein besonderer, ein anderer Krimi

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Kriminalkommissariat 111 in München. Die Abteilung steht kurz davor, einen Fall abzuschließen, bei dem eine Frau durch einen Schuss getötet und ein Polizist verletzt wurde, als der oberste Dienstherr den nächsten Fall präsentiert: wieder wurde ein Polizist zum Opfer, erschlagen am Rande einer Demonstration. Das Besondere: Eigentlich war die Abteilung 112 zuständig, doch nun wurde entschieden, weiter ermittelt wird durch das Kommissariat unter Polonius Fischer, dem ehemaligen Mönch mit der besonderen Verhörtechnik. Insbesondere eine merkwürdige Situation für Kommissarin Nasri, die erst seit kurzem nach ihrer Versetzung nach Fürstenfeldbruck wieder zurück in die bayrische Landeshauptstadt gekommen ist und zuvor bei den 112ern war… Deren emeritierter Chef Jakob Franck ist dem Kommissariat nach wie vor lose verbunden, als Berater, helfende Hand, Überbringer schlechter Neuigkeiten. Als dann auch noch der ungewöhnliche Detektiv Tabor Süden, ehemaliger Polizist und Spezialist im Auffinden verschwundener Personen, so gut, dass er den Verschwundenen ihren Schatten zurück zu geben vermag, im Polizeipräsidium auftaucht, da er weiß, wen er just an diesem Tage dort antreffen wird, ist klar, dass hier viele Fäden gewoben wurden, dieser Fall ein besonderer ist, und dass nicht nur, weil ein Kollege betroffen ist.

Nicht streng chronologisch, aus vielen Perspektiven, in der ersten Person und in der dritten beginnt Ani ein dichtes Netz zu spinnen, um Ermittler, Zeugen, Täter und Opfer. Er beleuchtet ihre Vergangenheit, ihre Beziehungen, ihre Probleme mit sich, mit anderen, mit dem Zeitgeist, den Institutionen. Die Lösung der Umstände um den Tod des Polizisten gehört selbstverständlich ebenfalls zur Handlung. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich bespielt Ani diesen Kriminalroman auf einem hohen Niveau und mit einem gewissen Anspruch.

Man möge es mir verzeihen, aber für einen eingefleischten Krimifan ist das vielleicht alles nichts. Die Lösung des Falls rückt hier in diesem Kriminalroman berechtigterweise in meinen Augen etwas in den Hintergrund zugunsten der Besonderheit, die der Autor bei der Konstruktion des Werks gewählt hat.
Denn Ani versammelt seine Protagonisten. Allen schreibt er eine Rolle in diesem Roman zu, und lange habe ich mich gefragt, warum. Erwartet hatte ich, dass ich sozusagen vier Genies, vier Menschen mit einer jeweils einzigartigen kriminalistischen Begabung präsentiert bekomme, die „Helden“ ihrer jeweiligen, seit langen Jahren etablierten Buch-Reihen des Autors. Aber das wäre viel zu glatt, zu unrealistisch, zu anspruchslos. Was der Leser präsentiert bekommt, sind vier Menschen. Jeder anders, mit einer anderen Vorgehensweise, mit einer etwas anderen Art der Interpretation seines Berufsbildes. Die vier arbeiten nicht in einem Kollektiv bei der Lösung dieses Falls zusammen, sondern sind wie sich im Raum bewegende Teilchen, die manchmal eine Bewegungsbahn teilen, sich manchmal berühren und oft nicht und doch tragen alle ihren Teil dazu bei, dass diese Geschichte rund wird – und irgendwie anders ist. Schwer, ein bisschen schwermütig, desillusionierend, tragisch.
Denn was für mich als der vorherrschende Eindruck am Ende bleibt, sind tatsächlich wie es der Klappentext sagt, Abgründe. Menschen am Rande des Abgrunds, mitten im Berufsleben oder kurz vor der Pensionierung, aber einfach vollkommen „durch“. Fertig mit der Welt, an der Grenze zum Suchtverhalten (fragt sich auf welcher Seite dieser schmalen Linie), suizidgefährdet, ausgebrannt. Und das ist furchtbar. Großartige Persönlichkeiten, helle Köpfe und verloren in dieser Welt, an diese Welt.
Vielleicht kann man deshalb auch nach der Lektüre nicht leichten Herzens das Buch zuklappen und sagen, „hat mir gefallen“ ohne weiter darüber nachzudenken – oder sollte es zumindest nicht. „All die unbewohnten Zimmer“ liest sich nicht leicht, wie ein Feld-Wald-Wiesen-Krimi, man muss schon ein bisschen mitdenken. Nicht über die Lösung des Falls, die aber tatsächlich auch nicht offensichtlich ist, sondern sich erst stückchenweise für den Leser klärt, sondern über Menschen, Umgang mit Menschen, das Zusammenleben in Häusern, Straßen, Städten, über Menschen, die anderen schlimme Nachrichten überbringen, die Kriminalfälle lösen, die Flaschen sammeln, die ihren Bruder an die Hand nehmen, die vor Friedhöfen stehen, weil jeder von ihnen eine Geschichte hat, die sein Denken und Handeln bestimmt – und dann kann man sagen „hat mir gefallen“ (oder natürlich auch nicht). Mir hat es gefallen, hat es sogar sehr.