Die Geschichte einer Kämpferin

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Diese Leseprobe beginnt am Tag von Hitlers Machtübernahme, welche aus der Sicht von Ruth Becker geschildert wird, die diesen Tag mit ihrem Mann Hans erlebt. Die beiden stehen Hitler offenbar sehr kritisch gegenüber, sie verfolgen die Wahl Hitlers zum Reichskanzler im Radio (und die daraus resultierende Euphorie auf den Straßen durch die Wohnungsfenster) ungläubig. Während Hans in Hitler nur eine "Galionsfigur" sieht, schwebt Ruth bereits die dunkle Zukunft Deutschlands vor. Hier zeigt sich schon ihr mutiger, rebellischer Charakter: Sie hängt eine rote Fahne aus dem Fenster der Wohnung, ein kleines Zeichen des Widerstands gegenüber den marschierenden Massen auf den Straßen?

Hier endet der erste Teil der Leseprobe, es erfolgt ein großer Zeitsprung, der zweite Teil spielt im Jahr 2001. Wieder findet die Schilderung der Ereignisse aus der Ich-Perspektive von Ruth statt, beginnend mit einem Gespräch mit ihrem Neurologen, der besorgt über ihren Gesundheitszustand ist. Ruth driftet bei diesem Gespräch und bei der anschließenden Hydrotherapie immer wieder ab, sie erinnert sich an Ereignisse aus der Vergangenheit. Ruth erscheint immer noch als starke, unabhängige Frau, die jung geblieben ist, obwohl sie sich den Sinn dieses Umstands scheinbar nicht erklären kann. Sie fragt sich, warum sie überlebt hat, während so viele sterben mussten, und sieht sich als Beweis für die "Irrationalität" Gottes (dessen Existenz sie nach wie vor anzweifelt).

Diese Leseprobe ist eher kurz gehalten, meiner Meinung nach gibt sie aber einen guten Einblick in den Roman. Von den Ereignissen, die auf dem Klappentext des Buches stehen, ist hier noch keine Rede, nur Dora Fabian wird von Ruth erwähnt, da sie glaubt, sie in einer jungen Frau zu erkennen. Doch die Wandlung Ruths zeigt schon sehr deutlich, dass sie in der Vergangenheit Schlimmes erlebt hat und man fragt sich, welche Geschehnisse zwischen den beiden Teilen der Leseprobe liegen.
Was mich besonders an diesem Roman beeindruckt, ist, dass es sich um eine wahre Begebenheit handelt. Vorlage für Ruth Becker ist Ruth Blatt, welche der Autorin Anna Funder persönlich ihre Lebensgeschichte erzählte. Auch wenn Ruth ihre eigene Rolle in der Geschichte offenbar bescheiden als unbedeutend charakterisiert, denke ich dass Anna Funder in ihrem Roman "Alles was ich bin" ein anderes Bild von ihr zeichnen wird, mit dem Ziel, endlich ihre Taten als das zu beschreiben, was sie waren: Beeindruckend. Aber ich will mir nicht zu viel über die Handlung dieses Romans ausmalen und noch etwas zur Erzählweise der Ich-Erzählerin sagen. Ich finde, man bemerkt schon daran, dass Ruth beim zweiten Teil der Leseprobe deutlich älter ist. Im zweiten Teil der Leseprobe wirkt sie sehr viel erfahrener und weiser als im ersten Teil, sie hat schon viel von der Welt gesehen und stößt überall in ihrem Umfeld auf Dinge, die Erinnerungen hervorrufen. Der Erzählstil ist sehr metaphorisch, man kann sich gut in die Erzählerin und die Geschehnisse hineinversetzen.
Ein Roman, den ich sehr gerne lesen würde!