Roman oder Biografie ... das ist hier die Frage

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Zunächst einmal: Anna Funder ist es mit ihrem Roman ‚Alles was ich bin’ gelungen, ein Stück jüdische Geschichte aufzuarbeiten. Sie hat zwei unterschiedliche Erzählperspektiven gewählt; sie lässt Ruth Becker und Ernst Toller in der Ich-Perspektive über den Aufstieg der Nazis in Deutschland, über ihre Flucht, ihren Kampf im Untergrund, die Ausweglosigkeit und die schrecklichen Folgen dieses Kampfes erzählen.
Beide kreisen mit ihren Erinnerungen um eine Zentralfigur, nämlich Dora Fabian. Eine lebensfrohe, freiheitsliebende Widerstandkämpferin, deren unbeugsames Leben in den - nicht selbst gewählten - Tod führt.
Der Roman basiert auf den Lebenserinnerungen von Ruth Becker, die Anna Funder persönlich kennen gelernt hat. Sie begleitet Ruth in der heutigen Zeit und springt von hier aus in deren Erinnerungen.
Was ich äußerst interessant finde ist, dass Ruth von Alzheimer betroffen sein wird. Diese Diagnose wird zwar nirgends genannt, aber Funder schreibt von Plaques im Gehirn. Das wird auf eine eindeutige Diagnose hindeuten.
Soweit ich das sehe, gab es in der Geschichte Europas kaum so viel Demenzkranke, wie in der Generation unserer Eltern und Großeltern. Ich vermute einen direkten Zusammenhang mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs. Selten wird der Wunsch nach Vergessenwollen so groß gewesen sein. Dies Thema wird hier unmerklich angedeutet, aber eben auch nur angedeutet. Da hätte ich mir mehr Mut der Autorin gewünscht.
Dennoch fand ich die Figuren in diesem Roman seltsam unberührend.
Ich bin als Leserin an einen Roman herangegangen - wie es ja der Titel versprach. Von einem Roman erwarte, dass ich gemeinsam mit den Figuren in ihre Welt abtauchen kann, mit ihnen lebe und leide. Was ich während des Lesens fand, war eine Biografie. Die fiktionalen Teile fand ich unnötig. Ich frage mich, ob es der Geschichte und ihren Figuren nicht besser getan hätte, es bei einer gut geschriebenen Biografie zu belassen. Auch da gibt es ja durchaus spannende Formen der Erzählstrukturen.