Vergessene Helden

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mammutkeks Avatar

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Es mutet schon eigenartig an, einen Roman über Menschen zu lesen, die hierzulande kaum noch bekannt sind, obwohl sie doch einen großen Einfluss auf die deutsche Geschichte hatten. Einen Roman, der dann auch noch nicht von einer deutschen Autorin stammt, sondern von einer Australierin, die in Brooklyn lebt. Und dazu einen Roman, der wirklich gut ist, wenngleich ich mir vorstellen könnte, dass er hier nicht zu einem Bestseller wird.
Denn zu sehr sind der Philosoph Theodor Lessing, die Frauenrechtlerin Mathilde Wurm oder Ernst Toller, der Schriftsteller und Anführer der Münchener Räterepublik sowie die weiteren historischen Personen dieses Romans inzwischen vergessen. In manchem Germanistikstudium mag (so wie in meinem längst vergangenen) noch die Abhandlung Lessings zum Hannoveraner Mörder Haarmann besprochen werden, auch Toller hat sicher noch einen kleinen Platz in der Behandlung der Ereignisse 1918/19, aber ansonsten sind die vielen historischen Personen in Anna Funders Buch wohl nur noch Experten bekannt.

Beeindruckend ist für mich aber immer ein Blick auf deutsche Geschichte aus nichtdeutscher Perspektive - und wie wenig gewertet wird. Selbst der Verrat von Hans, dem Mann von Ruth Becker, an dem beliebten jüdischen Journalisten Berthold Jacob, ist eine erzählte Episode, die zwar die Protagonisten werten, nicht aber die Autorin.

Erzählt wird die Geschichte aus zwei Perspektiven: Da ist zum einen Dr. Ruth Becker, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Sydney lebt, und auf ihr langes Leben zurückblickt. Sie erinnert sich beispielsweise an den 30. Januar 1933, an dem sie angesichts der Nazi-Feierlichkeiten in Berlin einen ersten kleinen Widerstandsversuch unternimmt, indem sie eine rote Fahne von ihrem Balkon wehen lässt. Doch schon bald sind sie und ihr Mann, der Journalist Hans Wesemann, gezwungen, ins Exil zu gehen. In London gehören sie trotz aller Einschränkungen zu den privilegierteren Exilanten, verfügen sie doch über Geldmittel von Ruths Eltern und können sich auch politisch betätigen. Allerdings fällt es Hans deutlich schwerer, mit der Situation umzugehen - eine Begründung für seinen späteren Verrat??

Die zweite Perspektive ist die Ernst Tollers, bzw. einer allwissenden Person, die über Toller, seine Gedanken, seine schriftstellerische Arbeit und sowohl die aktuelle Sekretärin Christina als auch die geliebte und getötete ehemalige Dora Fabian reflektiert. Dora Fabian ist - genau wie (fast) alle agierenden Personen - historisch belegt als Sekretärin und Geliebte Tollers. Zudem ist sie Ruths Cousine, die für sie immer ein Vorbild an Tatendrang und Gerechtigkeit war. Kennzeichnend für Dora war auch ihre Unabhängigkeit, die sie u.a. dazu gebracht hat, für die USPD- und SPD-Reichstagsabgeordnete Mathilde Wurm zu arbeiten. Eben der Mathilde Wurm, mit der sie 1935 gemeinsam tot aufgefunden wird. War es Selbstmord oder doch ein Mord durch die Nationalsozialisten?

Insbesondere die Erinnerungen Ruths sind sehr beeindruckend - und nehmen im Verlauf der Geschichte einen immer größeren Raum ein. Sie basieren auf vielfältigen Gesprächen der Autorin mit der alten Dame. Genau wie diese Interviews nennt Funder im Anhang ihre Quellen, mit denen sie dieses beeindruckende Stück Literatur erstellt hat. Für mich eine unbedingte Leseempfehlung.