Sehr vielversprechend! Sprachlich sehr gute und bildhafte Beschreibungen!

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amicorno Avatar

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Das Buchcover zeigt ein von hinten gesehenes Paar, welches eine Art ins Weiße getauchten Weg geht. Hand in Hand wandern die beiden aufwärts und von uns weg zu, der Weg führt in ein helles Nichts. Er scheint älter zu sein als sie, was seiner leicht gebückten und ihr leicht zugeneigten Haltung zu entnehmen ist. Möglicherweise handelt es sich um einen Liebesroman, was auch der Titel "Alles, was wir sind", suggeriert. Und doch scheint es um wesentlich mehr als eine Liebesgeschichte zu gehen, denn der Prolog und das erste Kapitel spiegeln eher Zeitgeschichte der Nachkriegsära in den USA und in der Sowjetunion wider.

Aus einer Wir-Perspektive ("Wir"= Stenotypistinnen) wird sehr bildlich und gut vorstellbar die Atmosphäre der Schreibbüros in der Nachkriegs-Kalter-Krieg-Ära in Washingtons beschrieben. Noch ist nicht ganz klar, um welche "Agency" und welche "Schreibpools" es sich handelt; auch "die Männer" werden nicht näher bezeichnet. Möglicherweise handelt es sich um das erwähnte OSS, das "Amt für strategische Dienste", denn einige frühere Mitarbeiterinnen und nun nicht mehr benötigte Damen, die im Krieg wohl u.a. Spionagetätigkeiten ausübten, werden in den Schreibpools noch mit beschäftigt. Die meisten Damen - Sekretärinnen, die auch mit den "secrets" der Männer zu tun haben - sind aufstrebende, junge Frauen, deren Zukunft jedoch gesellschaftlich so genormt im Familien- und Mutterdasein liegt.

Die Frauen haben trotz ihrer College-Abschlüsse nur "Tippsen"-Funktion, werden von den Männern im wesentlichen nach Anschlagsgeschwindigkeit im Tippen bzw. ihrem jugendlichen und sexy Aussehen beurteilt.
Überaus plastisch sind die Beschreibungen der ärmlichen und unzulänglichen Wohn- und Arbeitssituation dieser Stenotypistinnen durch Lara Prescott und auch der Übersetzerin Ulrike Seeberger, auch das damalige Washington mit seiner feuchten Luft, den Moskitos, Saunatemperaturen und schönen Frühlings- sowie Herbsteindrücken wird in seiner Haptik und in allen Sinneseindrücken sehr eindringlich und sprachlich brillant beschrieben.

Ein Schnitt zur Ich-Erzählerin Olga Wsewolodowna verdeutlicht eine ganz andere Situation im Moskau der 50-er-Jahre. Sie wird eines Tages vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und kommt ins berüchtigte Lubjanka, das Staatsgefängnis, in welchem man "vom Keller bis Sibirien sehen kann". Allmählich bekommt der Leser eine Ahnung, welches der Grund dafür sein könnte. Olga ist die Geliebte des verheirateten Boris Pasternak, dem Autor des weltberühmten Romans "Doktor Shiwago", den zu schreiben er gerade in Begriff ist. Sie soll dem Geheimdienst bestätigen, dass Pasternak an einem Buch antisowjetischen Inhalts arbeitet.
Ergreifend zu lesen ist, wie in einer Verhörnacht Olga schriftlich versucht festzuhalten, um was es in "Doktor Shiwago" geht. Was am Ende stehenbleibt: "Doktor Shiwago ist nicht antisowjetisch" genügt dem Verhörenden nicht und der Leser ahnt, dass die schwangere Olga noch einiges zu erleiden haben wird....