Die Macht der Literatur

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"Ich hatte all meinen Glauben in einen Mann gesetzt: meinen Borja, einen gewöhnlichen Sterblichen, einen Dichter."

Der Kalte Krieg zieht auf, und auch nach Stalins Terror und gnadenlosen Säuberungsaktionen unterliegt die Literatur in der Sowjetunion strengster Zensur. Moskau will verhindern, dass Pasternaks Lebenswerk "Doktor Shiwago" erscheint und scheut dabei vor nichts zurück. Seine Geliebte Olga Iwinskaja wird verhaftet und verhört, doch sie bleibt unerschütterlich in ihrer Liebe zu Boris - und landet dafür im Gulag. Auf der anderen Seite des Vorhangs setzen die USA alles daran, den Roman in die Hände zu bekommen, um ihn gegen das Regime zu verwenden. Dafür wird die junge Russo-Amerikanerin Irina angeworben, die von der erfahrenen Agentin Sally ausgebildet wird. Die Hetzjagd beginnt.

Lara Prescott hat sich in ihrem Debütroman dafür entschieden, auf beide Seiten des Eisernen Vorhangs zu schauen und in den Blick zu nehmen, wie die komplexe Chose "Shiwago" nun genau zusammenhing. Historische Ereignisse und Figuren werden verwoben mit fiktiven Handlungsebenen und Charakteren, wobei der fiktive Part den weitaus größten Teil des Romans ausmacht. Die historischen Begebenheiten bilden nur eine Art Grundgerüst.

Schon auf den ersten Seiten konnte mich der Roman vereinnahmen, da hier Olga von ihrer Gefangennahme und Lagerhaft erzählt. Das ist immer ein guter Aufhänger, da solche Geschichten nie langweilig werden oder den Leser kalt lassen. Doch recht schnell wechselt das Geschehen nach Amerika, wo das "wir" der Stenotypistinnen zunächst verwirrt, sich dann aber als interessanter Erzählstrang entpuppt, in dem so einige Geheimnisse gelüftet werden. Am nächsten kommt man, neben Olga, sicherlich der jungen Irina, die in der Agency zwar offiziell als Stenotypistin angestellt ist, eigentlich aber ganz andere Aufgaben auszuführen hat. Zwischen ihr und ihrer Ausbilderin Sally entfaltet sich eine zarte Liebesgeschichte, die im Amerika der 50er Jahre jedoch nicht geduldet wird.

Prescott wagt sich also an viele Themen heran - Repression in der UdSSR, Schriftstellertum, Lagerhaft, Homosexualität, Spionage, Liebe. Und obwohl es ihr gelingt, die Figuren farbig und in 3D erscheinen zu lassen, konnte mich der Roman kaum berühren. Sicher, er war spannend, informativ und v.a. sehr unterhaltsam, aber von den großen Gefühlen und tiefen Ängsten der ProtagonistInnen habe ich wenig gespürt.

Nichtsdestotrotz war "Alles, was wir sind" eine lohnende Lektüre, da sie darauf aufmerksam macht, was Literatur bewirken kann, und sich einem Klassiker widmet, den viele heute nur noch als Film kennen. Die Geschichte rund um die Entstehung des Buches, die Gefahr, die mit seiner Veröffentlichung einherging, das politische und persönliche Drama - das dürfte den Wenigsten bekannt sein. Wie es aussieht, wird "Shiwago" zur Zeit auch gar nicht aufgelegt, es sind nur gebrauchte Exemplare erhältlich - vielleicht ändert sich das ja durch Bücher wie dieses. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall.