Prekariat auf amerikanisch

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buecherfan.wit Avatar

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Die Leseprobe beginnt mit einem Prolog. Die 16jährige Liz Murray erzählt ihre eigene Geschichte. Sie vergleicht ihr Leben mit dem ihrer Mutter im gleichen Alter: beide sind obdachlos, beide haben die Schule abgebrochen. Sie hat keine Bleibe und kein Ziel und lebt in ständiger Angst vor den Gefahren der Straße.

Das erste Kapitel setzt vor ihrer Geburt ein. Ihre schwangere Mutter Jeanie besucht mit der älteren Schwester Lisa den Vater im Gefängnis. Er verbüßt eine dreijährige Haftstrafe wegen Betrugs und Drogenhandels im großen Stil. Bis zu seiner Verhaftung und Verurteilung ging es den Eltern von Lisa und Liz finanziell sehr gut. Die ersten fünf Lebensjahre des kleinen Mädchens sind dagegen gekennzeichnet von Armut und Hunger. Nur wenige Tage nach Einlösen des Sozialhilfeschecks sind  keine Lebensmittel mehr im Haus. Danach ist die Familie auf Gratismahlzeiten in einer Cafeteria und kirchliche Spenden angewiesen. Dennoch ist die Ich-Erzählerin nicht unglücklich. Sie liebt ihre Eltern, muss aber um deren Aufmerksamkeit und Liebe kämpfen, weil die Eltern zu sehr mit sich selbst und ihrer Drogenabhängigkeit beschäftigt sind. Alles ändert sich, als Liz eingeschult wird. Von nun an vergleicht sie sich mit anderen und begreift, wie weit ihre Familie von der Normalität entfernt ist, was sie und ihre Schwester entbehrt haben. Die ältere Schwester, die nach einem Zusammenbruch der Mutter eine Zeit lang in einer Pflegefamilie gelebt hat, weiß, dass andere Kinder sich nicht mit Mangelernährung und Vernachlässigung abfinden müssen und fordert nachdrücklich ihr Recht.

Auf diesen ersten 58 Seiten des Romans schreibt die Ich-Erzählerin auch die Geschichte ihrer Eltern, die beide aus trostlosen Familienverhältnissen stammen. Die Mutter ist mit 13 vor Gewalt, Missbrauch und dem Wahnsinn ihrer Mutter geflohen, der Vater hatte einen gewalttätigen Trinker zum Vater. So hatten beide einen schlechten Start im Leben, und der Weg in die Drogenkarriere war dadurch vorbereitet. Liz Murray wird diesen Lebensweg nicht wiederholen, sondern sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit aus dem trostlosen Milieu befreien und ihren eigenen Weg gehen. Das ist packend zu lesen und weckt den Wunsch, ihre Erfolgsstory kennen zu lernen. Mich hat die Leseprobe sofort an einen Roman erinnert, der mich vor mehr als 12 Jahren stark beeindruckt hat und den ich nie vergessen habe: Andrea Ashworth, "Als unser Haus in Flammen stand" (Once in a house on fire). Die Engländerin Andrea Ashworth wächst in einem sehr gewalttätigen Milieu auf, und auch sie hat als junges Mädchen den Mut und die Kraft, sich daraus zu befreien. Autobiografische Romane wie diese entfalten eine starke Wirkung und beeindrucken mich mehr als jede Fiktion.