Tolles und lebendiges Stück deutscher Geschichte

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
marionhh Avatar

Von

Die Studentin Alexandra Liebermann lebt mit ihrer Großmutter friedlich und ohne große Aufregungen in Ostberlin, als 1989 der Umsturz passiert, die Wende, die Mauer ist offen, die Menschen strömen vom Osten in den Westen und umgekehrt. Zwischen all den Menschenmassen trifft Alexandra die Liebe auf den ersten Blick in Person von Oliver, einem Westler, dem es genauso geht. Nur warum trifft dann Momi der Schlag, als die Oliver zum ersten Mal sieht?

Nach und nach erfährt der gebannte Leser die Geschichte Momis, die auch die Geschichte Alexandras ist. Momi, eine Frau, Ende des 19. Jahrhunderts geboren, hat zwei Weltkriege überlebt, hat Schicksalsschläge, Revolutionen, die große Liebe erlebt, ist für ihre Überzeugungen auf die Straße gegangen, hat die ersten Frauenhäuser gegründet und ist doch immer ihren Prinzipien und ihrem Stolz treu geblieben. Ihre Geschichte beginnt 1912, als sie dem Verführer und Sozialisten Clemens begegnet und sich bis über beide Ohren in ihn verliebt, obwohl sie nicht nur von einer Seite gewarnt wird.

Auf zwei Zeitebenen erzählt die Autorin die Geschichte zweier – oder eigentlich dreier - Frauen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein können. Paula Thomas ist idealistisch, treu und loyal, hingebungs- und temperamentvoll, genießt das Leben in vollen Zügen, geht für ihre Überzeugungen auf die Straße und gründet im Berlin nach dem Ersten Weltkrieg die ersten Frauenhäuser. Alex, auf der anderen Seite, ohne Eltern aufgewachsen, hinterfragt das System nicht, hat aber trotzdem unbestimmte Ängste und Sehnsüchte, ist kühl und zurückhaltend, eine Leseratte und ein Stubenhocker. Die Wende und überhaupt alles Neue macht ihr Angst, und die Zeit mit Oliver ist nur vorübergehend, ihre Vernunft siegt letztendlich. Für Alex setzt nicht nur die politische, sondern vor allem die persönlich Wende ein, mit dem Treffen Olivers mit Momi werden die alten Zeiten heraufbeschworen, und dem Leser wird spätestens jetzt klar, wie die beiden Erzählstränge zusammenhängen und wie die beiden Frauen aus den augenscheinlich so unterschiedlichen Zeiten miteinander verbunden sind. Aber auch die Dritte im Bunde, die vermeintliche Gegenspielerin Momis, ist immer präsent, und auch hier erkennt der Leser nach geraumer Zeit, wer die Person in alter und in neuer Zeit ist und wie sie das Leben damals und 1989 beeinflusst. Als die drei Frauen und Oliver am Ende zusammentreffen ist das der Höhe- und gleichzeitig der Schlusspunkt des Romans.

Selten hat mich ein Buch so gefesselt, dass alles andere Nebensache wird. Nicht nur dass man auf wundersame Weise, beinahe nebenher, Zeuge der deutschen Geschichte wird, nein man ist sozusagen live dabei, wie Geschichte geschrieben wird. Die Charaktere sind dermaßen real, dass man glaubt sie zu kennen und mit ihnen zu leben. Nicht nur die Hauptfiguren wie der charismatische Arbeiterführer Clemens oder natürlich Paula ziehen einen in den Bann, man ist mindestens ebenso beeindruckt von den sogenannten Nebenfiguren wie ihrem Bruder Manfred, der zusammen mit Paula im Kampf für die Arbeiter, bessere Verhältnisse für die Armen, die Frauen und allgemein für die Bevölkerung ihr letztes Hemd geben. Diese sogenannten „Nebencharaktere“ (gibt es eigentlich nicht) fesseln und sind vielschichtig und hervorragend herausgearbeitet. Paula und Manfreds Vater ist ein ebenso sympathischer und durch und durch menschlicher Charakter mit all seinen Fehlern wie Harry oder die dicke Frieda, Kutte, Deborah und alle anderen. Und selbst die Bösen sind nicht durch und durch böse, und die Traumata der Kindheit oder des Weltkriegs lassen alles Durchtriebene verständlich erscheinen und teilweise auch verzeihlich. Auch die „Überfigur“ Clemens zeigt immer mehr Schwächen auf und erweist sich letztendlich als feige und dem Leben nicht gewachsen. Da offenbaren die Frauen der Geschichte doch den weitaus handfesteren, pragmatischeren und stärkeren Charakter und erweisen sich schließlich als die Überlebenswilligeren.

Die Erzählebene um Paula und ihre Freunde nimmt denn auch den größten Raum ein, es wird immer schön deutlich gemacht, von welcher Ebene aus gerade erzählt wird (Paula oder Alexandra) und zu welcher Zeit es spielt. Sehr gelungen finde ich vor allem die jeweilige Übername der letzten Passage des einen Kapitels in das nächste, so wird immer eine Brücke geschlagen von der alten Zeit nach 1989 und der Leser hat sofort die Verbindung. So dauert es denn auch nicht lange herauszufinden, wie die beiden Ebenen zusammenhängen und wie Paula und Alex miteinander verbunden sind. Am Ende des Buches findet sich ein Glossar mit wichtigen Begriffen aus der damaligen Zeit, aus Politik, Kriegswesen oder anderem, was in der Zeit wichtig ist, und meines Erachtens schadet es nicht, dies zu Anfang zu lesen. So ist man dann gleich beim Lesen der Passage voll im Bilde.

Aber es ist schließlich auch kein Krimi, der große detektivische Denkleistung fordert, sondern ein großartiger Roman über zwei Frauen und ihre Liebe, zu einem Mann, zu ihren Überzeugungen und vor allem zueinander, und ein intensives Zeitzeugnis, wie Menschen wirklich gelebt haben zu einer Zeit, in der es oftmals ums nackte Überleben einfach nur bis zum nächsten Tag ging. Und nicht zuletzt auch um Verzeihen und Vergebung ganz am Ende im Angesicht des Todes.

Fazit: Toller Roman der Berliner Autorin, dem man anmerkt, dass hier sehr viel Herzblut hineingesteckt wurde. Sehr gelungen und unglaublich fesselnd. Nicht nur ein Stück Zeitgeschichte, sondern eine zu Herzen gehende Geschichte über Menschen und ihr Leben, von denen man wirklich das Gefühl hat, sie haben all dies wirklich erlebt und man hat mit ihnen gefühlt. Für durchweg alle zum Lesen dringend empfohlen, aber vor allem für jene, die etwas über ein kleines Stück jüngerer deutscher Geschichte erfahren wollen, ohne trockene Geschichtsbücher wälzen zu müssen. Und für solche, die wissen wollen, was wahres Herzblut und Einstehen für seine Überzeugung ausmacht. Tolle Autorin, tolles Buch!!