Das Wasser, das Zeiten und Räume überbrückt

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"Könnten wir die Erde mit den Augen eines Kindes betrachten, das unschuldig staunend aufblickt, könnten wir die Flüsse am Himmel sehen. Mächtige Ströme, die nie versiegen."

Die ezidische Gemeinde in der Türkei, in der die 9-jährige Narin lebt, steht kurz vor der Überflutung aufgrund eines neuen Staudammprojekts. Solange sie noch kann, will sie ihre Heimat gemeinsam mit der geliebten Großmutter genießen, bevor sie für immer verschwindet. Dabei ahnt sie nicht, wie eng ihre Geschichte verwoben ist mit der eines Gossenjungen aus dem viktorianischen England, der sein Leben dem antiken Mesopotamien verschrieben hat.

Dem neuen Roman der großartigen Schriftstellerin Elif Shafak merkt man die akribische, detailreiche Recherche in jeder Zeile an. Es werden drei, beinahe schon vier Geschichten erzählt, begleitet von unzähligen Nebencharakteren und deren eigenen Hintergründen. Nichts wirkt blass, nichts unter den Teppich gekehrt an diesem Werk - Shafak kennt ihre Welt(en) in- und auswendig, jede Figur, jeder Handlungsort tritt plastisch aus den Seiten hervor. Verbunden ist alles über das Wasser - das Lebenselixier dieser Welt. Mal befinden wir uns an der Themse, mal am Tigris; mal kommt das Wasser als zerstörerische Sintflut, mal als sanfte Schneeflocke. Immer wieder zeigen sich die kleinen und großen Schnittmengen der drei Protagonist*innen Narin, Zaleekhah und Arthur, immer wieder kreuzen sich ihre Wege über Zeiten und Räume hinweg. Das ist so wunderbar und kunstvoll gemacht, dass man beginnt sich zu fragen, was die Dinge und Menschen um einen herum wohl genau an den Ort gebracht hat, an dem sie gerade sind; welche Verbindungen zur Vergangenheit einem selbst wohl täglich begegnen und durch die Hände gehen; wo das Wasser, das man gerade trinkt, wohl vor 10 oder 100 oder 10000 Jahren noch war.

Dieses Buch ist nicht aus der Hand legbar. Jedes Wort, jeder Satz, jede Seite ist ein Genuss. Spannendes wird mit Berührendem verknüpft, Vergessenes mit Wohlbekanntem, Wunderschönes mit Grausamem, Mythisches mit Materiellem. Shafak hat ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das einen neuen Meilenstein in ihrer Karriere bilden dürfte. Ich empfehle es von ganzem Herzen.