Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte in einem packenden und komplexen Roman

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emma217 Avatar

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“Am Himmel die Flüsse” von Elif Shafak folgt drei Personen, die zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten leben und die doch über die Kraft des Wassers und das Gilgamesch-Epos miteinander verbunden sind. Arthur, der Mitte des 19. Jahrhunderts in London in großer Armut aufwächst, sich schon in jungen Jahren für die Stadt Ninive und die mysteriösen Lamassus interessiert, war von Beginn an mein Lieblingscharakter. Wie er trotz seines schwierigen Umfelds stets darauf bedacht ist, Neues zu lernen und dadurch einen Weg aus seinem tristen Dasein findet, wird von der Autorin einfühlsam beschrieben. Gleichzeitig bringt sie uns auf spannende Weise viele interessante Fakten über Mesopotamien und das Gilgamesch-Epos näher. Der zweite Handlungsstrang widmet sich dem jesidischen Mädchen Narin, die 2014 in der Türkei lebt und sich mit ihrer Großmutter auf den Weg in den Irak begibt, um dort getauft zu werden. Auch hier webt die Autorin viel Wissenswertes über jesidische Traditionen in die Handlung ein. Schließlich lernen wir noch Zaleekha kennen, eine Wissenschaftlerin, die 2018 in London lebt und das Wasser erforscht.

Eine große Stärke der Autorin ist ihre Fähigkeit, uns Lesenden geschichtliche Ereignisse geschickt in einen Unterhaltungsroman verpackt näherzubringen. Dies gelingt ihr auch in diesem Buch wieder einmal außerordentlich gut. Ich war ganz gebannt, selbst mehr über die geheimnisvollen Lamassus zu erfahren, über den grausamen Herrscher Assurbanipal und die “Teufelsanbeter” von Ninive. Auch das viktorianische London und die heutige Türkei erweckt sie in ihrer bildhaften Sprache und den lebendigen Details zum Leben. Nur gegen Ende empfand ich, dass ihre sonst so ausgewogene Erzählweise etwas in Schieflage gerät. Die Ereignisse und Wendungen drohen sowohl die Charaktere als auch uns zu erdrücken und in Hoffnungslosigkeit zu versinken. Angesichts dessen, was den Jesiden und Jesidinnen im Laufe der Zeit und vor allem in der jüngeren Vergangenheit angetan wurde, ist diese Entwicklung allerdings allzu verständlich. Und auch diese nur schwer zu ertragenen Wendungen werden von der Autorin empathisch und glaubhaft geschildert.

Es ist ein wichtiges Thema, dessen sich Elif Shafak hier annimmt. In gewohnt starker Erzählweise integriert sie ein Stück Zeitgeschichte in einen packenden und komplexen Roman, ist dabei stets empathisch, ohne die Handlung ins Kitschige abdriften zu lassen oder zu überfrachten. Die Verbindung der Geschehnisse mit dem Gedächtnis des Wassers fügt zudem eine märchenhafte Komponente hinzu, die der Geschichte trotz der Schwere der Themen eine gewisse Leichtigkeit verleiht.

“Am Himmel die Flüsse” ist ein besonderer Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle.