Steter Tropfen höhlt das Lesevergnügen

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angie99 Avatar

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Angeblich begleiten wir in „Am Himmel die Flüsse“ einen Wassertropfen auf seiner wiederkehrenden Reise auf die Erde – ein absolut interessantes Thema, das angesichts sich mehrender Dürren und Starkregenereignissen von großer Aktualität ist.
Dieser Wassertropfen jedoch wird in seine Atome H – H – O zerlegt und auf drei Biographien verteilt: *Narin, Ezidenmädchen, Türkei, 2014 *Arthur, Altertumsforscher, London, Mitte des 19. Jahrhunderts *Zaleekhah, Hydrologin, London, 2018. Dabei schlängelt sich das Element Wasser zwar durch alle drei Geschichten, der erwähnte eine Tropfen taucht allerdings nur sporadisch, willkürlich und ohne tiefere Bedeutung mal hier und mal da auf.
Die drei Protagonisten verbindet dagegen weit mehr als nur ein Wassertropfen. Da sind die Flüsse. Themse und Tigris. Dann Lamassus. Noah. Lapislazuli. Gilgamesch. Keilschrift. Riten und Traditionen. Ahnen und Erinnerungen… Die Liste der Berührungspunkte zwischen den Erzählsträngen wird so lang, dass das, was anfangs noch als kunstvoller Aufbau anmutet, irgendwann zur Überkonstruktion kippt. Zwar ist Elif Shafak eine Erzählerin, die ihre Kunst aus dem ff beherrscht. Sie weiß ihre Leserschaft ans Buch zu binden, schreibt flüssig (!) und bildhaft, bringt immer wieder überaus wissenswerte Fakten in ihrer Prosa unter. Doch das, was die Autorin diesmal ihre Figuren und Nebenfiguren erleben und sagen lässt, wirkt nicht mehr lebensecht, sondern vielmehr, als müsse sie einen Katalog abarbeiten.
Dies gilt für die vielen Verbindungen untereinander genauso wie für die verschiedenen Rollen und Bedeutungen, die das Wasser für uns Menschen hat. Das Wasser taucht als Fluss, Regentropfen, Schneeflocke auf, Wasser als Lebensgrundlage, Durstlöscher, Ernährer, Energielieferant, Unfallverursacher, Krankheitsträger, Schmutzbeseitiger, Grab, Archivar, religiöses Symbol, Schatzhüter, Transportweg, Wohnsitz – nichts lässt die Autorin aus, und das ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr bereichernd, sondern ermüdend.
Gleiches passiert auch mit einer Flut an weiteren Themen, die Shafak teilweise krampfhaft bemüht im Text unterbringt – oder sollte ich besser sagen: in ihn hineinstopft?
Symptomatisch wird gegen Ende ein brisantes Thema angeschnitten, das jedoch keinerlei tiefgründigere Auseinandersetzung mehr erfährt, sondern den Roman mit schnellen Schnitten zu einem allzu lieblichen Ende bringt.

„Am Himmel die Flüsse“ basiert auf ausgiebigen Recherchen historischer und zeitgenössischer Quellen. Das ist prima. Und dass die Autorin einige leichte Anpassungen an den historischen Vorbildern vorgenommen hat, die sie im Nachwort auch klar benennt, ist legitim, weil es sich hier ja um ein fiktives Werk und nicht um ein Sachbuch handelt.
Allerdings sind es gerade diese und weitere kleine Realitätsverschiebungen, die die erzählten Geschichten auch so unecht erscheinen lassen. Besonders die Charaktere leiden unter zu geradlinigen Erklärungen und aufgesetzt pathetischen Gesprächen; sie werden nicht greifbar lebendig. Mir waren sie zwar nicht unsympathisch, aber irgendwann einfach egal.
Viele Themen, viele moralische Fingerzeige, viele Fakten und viel Fiktives – all das ist Shafaks neuestes Werk. Weniger wäre wahrscheinlich mehr gewesen.