Am Horizont das rote Land

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marionhh Avatar

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Irland, 1840: Die junge Rhia, Tochter eines Tuchhändlers, soll den Kaufmann William O’Donahue heiraten, verprellt ihn aber, so dass er die Verlobung löst. Ihr Vater ist „not amused“, nach einem Streit stürmt er in seinen Club. Spät in der Nacht wird Rhia geweckt: Es gibt einen Brand im Lager – ihr Vater wird schwer verletzt herausgetragen, lebt aber. Der Verlust der Waren bedeutet jedoch herbe finanzielle Einbußen für das ohnehin angeschlagene Geschäft.

Der Vater erholt sich nur schwer, und zusammen mit Ryan, Rhias Onkel, beschließen die Eltern Rhia nach London zur Quäkerin Antonia Blake zu schicken, damit sie sich in London eine Stelle als Gouvernante suchen kann. Dazu kommt es jedoch nicht: Antonia hat vor kurzem ihren Mann Josiah verloren, und auch Ryan kommt unter mysteriösen Umständen ums Leben. Rhia und einige ihrer neuen Bekannten, darunter Laurence, Antonias Schwager, und dessen Freund, der Journalist Dillon, glauben nicht an ein Unglück.

Rhia erhält eine Stelle im Laden des Stoffhändlers Montgomery, wird jedoch in dessen Haus des Diebstahls angeklagt und nach kurzer Haft in die Sträflingskolonie Australien deportiert. Auf dem Schiff befindet sich auch Laurence, der ihr helfen will, was ihm aber zum Verhängnis wird. Rhia wähnt sich alleine, hat jedoch Helfer in der Kolonie selbst und auch in London. Gemeinsam mit ihnen und Michael Kelly, einem Freund aus Irland und nun Sträfling kurz vor der Freilassung, deckt sie nicht nur die Morde, sondern auch die kriminellen Hintergründe auf und macht die wahren Verbrecher dingfest.

Ein sehr flüssig und gut geschriebener Roman über eine interessante junge Frau, deren Leben eine plötzliche und unverhoffte Wendung erhält und die gleichzeitig in einen Kriminalfall verwickelt wird. Gleich auf den ersten Seiten passiert viel, so dass der Leser sofort gefesselt ist und in die Geschichte eintauchen kann. Aus verschiedenen Perspektiven und chronologisch wird die Handlung erzählt, so dass man von der Gedankenwelt der einzelnen Protagonisten einen sehr guten Einblick erhält.

Besonders gut gelingt dies bei Rhia, die ungestüm und leidenschaftlich, aber auch sehr mitfühlend ist und eine starke Persönlichkeit hat. Sie ist sehr klug und besonders von ihrer Großmutter Mamo so erzogen, dass sie sich mit der Rolle der folgsamen Ehefrau nicht abfinden kann. Im Gegensatz zum klassischen Rollenbild der Frau ist sie für ihre Zeit bemerkenswert emanzipiert. Tief verwurzelt ist sie in der keltischen Mythologie, sie sieht den Geist ihrer verstorbenen Großmutter und hat überhaupt Zugang zum Mystischen. Sie schreibt Briefe an ihre Großmutter und macht so ihr Innerstes dem Leser zugänglich und verarbeitet das ihr Geschehene.

Parallel zu Rhias Geschichte wird zudem das Geschehen in Sidney geschildert, und zwar aus der Sicht von Michael Kelly, dem Vater ihres guten Freundes Thomas aus Irland. Michael Kelly hat sich – obwohl Sträfling – einen guten Namen gemacht und kämpft gegen die Korruption der britischen Obrigkeit und gegen Ungerechtigkeit, und selbstverständlich begleitet er Rhia auf ihrem Weg, das Unrecht, das ihr widerfahren ist, aufzuklären.

Passend zu Rhias Weltsicht ist auch jedes Kapitel in Stoffnamen, Muster oder Farben unterteilt, deren Motiv sich in der Handlung wiederfindet. Jeder Tag ist ein Stoff, und Rhia sieht überall Muster und Stoffe. Sie selbst vollzieht ebenfalls eine Wandlung, wird reif und erwachsen und hat keine Angst mehr vor dem Unsichtbaren. Übrigens passt hierzu auch der Originaltitel im englischen viel besser als die deutsche Übersetzung, „The Silver Thread“ heißt soviel wie „der silberne Faden“, und wie ein Faden zieht sich die Welt der Stoffe durch das Buch, und wie ein Quilt wird am Ende jedes Versatzstück in ein großes Ganzes gewebt und die Lösung präsentiert.

Das Buch ist ein echter Pageturner und bis in die Nebenrollen sehr gut ausgearbeitet. So hadert z.B. Antonia oftmals mit ihrem Glauben und fühlt sich zu Montgomery hingezogen, Juliette ist ständig niedergeschlagen und nervös. Einige Personen wie etwa Dillon bleiben jedoch auch mysteriös, und man verdächtigt erst einmal grundsätzlich jeden der unlauteren Machenschaften. Dies erhöht die Spannung, und die wahren Hintergründe lösen sich erst zum Schluss – wie in einem echten Krimi – im „großen Finale“ komplett auf.

Recht interessant ist übrigens auch der historische Hintergrund: Zum Einen, dass sich England zu der Zeit gerade im Opiumkrieg mit China befand, zweitens der Tatbestand der Deportation von britischen Sträflingen in die Kolonie Australien. Beides spielt eine ebenso große Rolle wie die Kalotypie, der Vorreiter der heutigen Fototechnik. Mit Hilfe der revolutionären Technik decken Rhia und Laurence das Geheimnis des Pergaments und entlarven den Mörder.

Fazit: Ein sehr lesenswerter Roman über eine starke und vielschichtige Protagonistin, und auch die Nebenrollen sind sehr gut beschrieben! Der Autorin gelingt es vortrefflich, die verschiedenen Handlungsstränge, die historischen Hintergründe, den Kriminalfall und die Deportation, zu verknüpfen und die Zustände atmosphärisch dicht darzustellen. Ein bisschen Krimi, ein bisschen Liebesgeschichte, ein bisschen Mystik – alles ist dabei und wird niemals langweilig. Ein toller Schmöker mit guter Geschichte vor interessantem historischen Hintergrund, fesselnd und mit sehr befriedigendem Ende.