Da tun sich Abgründe auf

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lesetrudi Avatar

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Das Cover vermittelt den Eindruck, dass ein kleines Mädchen Urlaub an der Nordsee macht. Sie scheint glücklich zu sein und lacht in die Kamera. Aber was hat sie wirklich erlebt? Der Klappentext und die Leseprobe geben erste Einblicke in eine Zeit mit Missständen, seelischen und körperlichen Misshandlungen an Kindern, die sich nicht wehren konnten und die ja in Kureinrichtungen waren, um Krankheiten, Asthma oder Allergien auszuheilen. Ein schwieriges und sehr emotionales Thema, das von vielen lieber verschwiegen wurde. Nur gut, dass in so schwierigen Zeiten Freundschaften entstehen und über schlimme Zeiten helfen. Wie können Kinder mit derartigen Erlebnissen umgehen? Barbara Leciejewski widmet sich in ihrem aktuellen Roman diesem wichtigen Thema, das erst in den letzten Jahren Aufmerksamkeit bekommen hat, weil Betroffene ihre furchtbaren Erlebnisse öffentlich machen und endlich Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels stattfindet. Ich wusste bis vor kurzem auch nichts von den Verschickungskindern, wenn ich nicht eine Reportage im Fernsehen gesehen hätte, die mich sehr betroffen gemacht hat. Mit dem Roman von Barbara Leciejewski wollte ich mehr über die Menschen erfahren, die erstens diese Gewalt an den ihnen anvertrauten Kindern ausübten und zweitens wie es den Kindern dabei erging.
Der Roman hat eine zeitliche Aufteilung, einmal das Jahr 1969, als die damals neunjährige Susi, die Hauptprotagonistin, in das Kurheim „Haus Morgentau“ verschickt wurde und das Jahr 2018, als Susi ihre 87-jährige demente Mutter Luise im Pflegeheim besucht. Zwischen diesen Jahren bewegen sich die Kapitel, einmal im Rückblick, einmal in der Gegenwart.
Der Roman beginnt mit der freudigen Nachricht der Eltern, dass der Kinderarzt für die schmächtige Susi einen Kurplatz hat. Alle freuen sich für Susi, die Eltern, die Oma und ihre beiden großen Geschwister Edith und Wolfgang. Der Abschied fällt schwer. Aber sechs Wochen sind doch nicht lang und wenn du zurückkommst, sehen wir uns alle die erste Mondladung, so der Vater. Die Zugfahrt wird von einer „Tante“ des Kurheimes begleitet. Der Zug ist voll von Verschickungskindern, die bei Ankunft an der Nordsee auf viele Kurheime verteilt werden. Susi hat Glück und sitzt gleich im richtigen Abteil, in dem sie erste Kontakte zu Moni und Rüdiger knüpft. Sie kümmern sich auch um einen ganz kleinen fünfjährigen völlig verstörten kleinen Jungen Holger, der seinen Eltern förmlich entrissen wird und nur weint. Im Kurheim angekommen, lernt sie Matti kennen, der bereits eine Kurverlängerung bekommen hat, nicht weil er so krank ist, sondern aus erzieherischen Maßnahmen heraus. Er hilft den Neuankömmlingen und gibt Hinweise auf das was sie erwartet: harte Bestrafung, Demütigung, Essenszwang, Toilettenverbot und Misshandlung. Das schmiedet die vier von Anbeginn zusammen und eine Freundschaft, die in dem Kurheim lebenswichtig wird, entsteht.
Susannes Mutter Luise liegt im Pflegeheim und ihr Zustand ist besorgniserregend schlecht, so dass die Heimleitung Susi Bescheid gibt. Gemeinsam mit ihrer Tochter Julia besucht sie die Mutter, die trotz ihrer Demenz Susi um Entschuldigung bittet. Warum eigentlich? Damit beginnt eine Art „Aufarbeitung“ der Geschehnisse von 1969 im Kurheim. Julia ist auch sehr daran interessiert, davon zu erfahren, denn sie weiß um die ungeklärten nächtlichen Albträume und Schreie ihrer Mutter. Susanne informiert ihre Geschwister Edith und Wolfgang über den Zustand der Mutter, so dass diese angereist kommen und nun ebenfalls Susis dramatischen, unfassbaren und zerstörenden Berichten ihres damaligen Kuraufenthalts zuhören. Wichtig ist für Susanne von ihrer Mutter zu hören: ich habe dir geglaubt. Fünfzig Jahre hat es gedauert, bis das unfassbare ausgesprochen wird, fünfzig Jahre lang hat Susanne versucht die Erinnerungen zu verdrängen, auch deshalb, weil ihr vor fünfzig Jahren NIEMAND geglaubt hat, was sie erleben musste. Durch den nahenden Tod ihrer Mutter Luise hat sich die Familie wiedergetroffen, die durch die Jahre entfremdeten Geschwister haben wieder zueinander gefunden, jeder hat von jedem aus deren Leben erfahren, was Jahrzehnte nicht möglich war. Die Gründe dafür erfährt der Leser, in dem auf jeden einzelnen etwas eingegangen wird. Auch wenn die eigentliche schwer zu ertragende Thematik des Romans den Hauptteil einnimmt, so wird dies durch die Zeitebenen, durch die Erzählungen Susannes an Luises Bett, dem unglaublich großen Verständnis und zurückhaltender Neugier von Tochter Julia, abwechslungsreich und informativ. Ein Höhepunkt ist auch die Unterhaltung zwischen Susanne und ihrer Tochter Julia, bei der Julia erfährt wer ihr Vater ist. Neben den schweren Entscheidungen und Erlebnissen, die dem Leser in diesem Roman vermittelt werden, gibt es auch diese kleinen fast romantisch anmutenden Augenblicke.
Ein Roman, der mich sehr bewegt hat. Die Antwort auf meine erste Frage zum Roman wurde leider nur etwas durch Rüdiger beantwortet, der auf einem Treffen der Verschickungskinder nach über fünf Jahrzehnten kleine Einblicke gab, was es für Hintergründe gab, dass die „Tanten, Ärzte und Heimpersonal“ derart unfassbar mit den ihnen anvertrauten Kindern umgegangen sind. Wahrscheinlich wurde den meisten Kindern wirklich nicht geglaubt, was sie zu Hause erzählten, denn auf den Ansichtskarten stand doch : „Am Meer ist es schön“.