Verschickungskinder erleben Gewalt und Demütigungen – ein dunkles Kapitel

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
gucci Avatar

Von

Millionen "Verschickungskinder" wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zum Aufpäppeln zur Kur geschickt. Gern ans Meer, die Zuhausegebliebenen beneideten das Kind. Die Wahrheit war oft anders - viele erlebten bei Kuren bis in die 1970er-Jahre Demütigungen und Gewalt und leiden noch als Erwachsene. Sie haben Angst-, Schlaf- und Essstörungen, kämpfen mit Depressionen. Lange war über das Leid der Verschickungskinder wenig bekannt. Allmählich kommt Licht in dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte und es findet Aufarbeitung statt.

Barbara Leciejewski widmet sich in ihrem aktuellen Roman dem wichtigen Thema.

Susi soll es sechs Wochen an der Nordsee gut gehen. Die Krankenkasse kommt für die Kosten auf, Susis Eltern freuen sich, dass ihre Jüngste von drei Kindern diese Reise machen darf. Die Zugfahrt wird begleitet von Tanten, die bereits bei der Übergabe der Kinder an die Kureinrichtung, Hinweise an die Herbergseltern geben, wie sich die Kinder betragen haben. Erste Kontakte knüpft Susi schnell, besonders zu Moni und Matti, ein Jungen, dessen Kuraufenthalt immer weiter verlängert wird. Die Kinder werden eingeschüchtert. Spielzeug, Kuscheltiere und Puppen – das Tröstende wird ihnen weggenommen. Der Koffer mit der Kleidung wird unter Verwahrung genommen, frische Kleidung zugeteilt. Es gibt feste Zeiten für Waschen und Toilette und wer nicht aufisst, hat sitzenzubleiben, bis er aufgegessen hat. Es ist grausam, wie ein Aufenthalt am Meer im Handumdrehen zu einer unerträglichen Strafe wird. Tante Erna ist streng, ihre Praktikantinnen müssen auch spuren, sie lässt sich genau berichten und bestraft hart. Sperr ein Kind in einen finsteren Raum oder lass ihn auf einem Stuhl stehen…

Mir war dieses Thema nicht fremd, denn meine Mutter war auch zweimal ein Verschickungskind. Sie war brav, erlebte aber auch angebunden an den Stuhl werden und Erbrochenes aufessen. Die Post nachhause wurde kontrolliert, dies wussten meine Großeltern und gaben ihr Briefmarken und Papier mit. Sie schmuggelte Briefe heraus, übergab sie dem Kaplan, er nahm Post für sie an. Diese Aufenthalte waren der Grund, dass meine Mutter nie wollte, dass wir als Kinder, dieses Fremden ausgeliefert sein, erleben müssen.

Der Titel des Romanes „Am Meer ist es schön!“ ist ein beliebter Satz, den Tante Erna sehr gern auf den Grüßen der Kinder für Nachhause liest. Gefällt ihr bei der Briefkontrolle das Geschriebene nicht, wird das undankbare Kind gezwungen neutrale Grüße zu senden. Man droht ihm, sollte die Kur angebrochen werden, müssten die Eltern die gesamten Kosten des Aufenthaltes bezahlen. Die Kinder entwickeln Hass, manche schmieden Fluchtpläne.

Der Roman von Barbara Leciejewski hat mir bestätigt, was meine Mutter mir als von ihren Aufenthalten erzählt hat. Es entsprang nicht ihrer Fantasie, sie war eine Betroffene der Zeit, wie Millionen anderer Kinder. Ihre Eltern glaubten ihren Berichten, da hatte sie Glück, denn vielen anderen Kindern glaubten die Eltern nicht, wenn sie davon erzählten.

Der Roman ist in zwei Zeitebenen erzählt. Ausgehend von der Gegenwartshandlung, als Susi von ihrem Kuraufenthalt erzählt, sind wir in den Rückblenden dabei. Lange Zeit habe ich gedacht, dass ich die Gegenwartserzählung nicht benötige, jedoch um zu verstehen, welche Auswirkungen der Kuraufenthat auf manche Kinder noch 40/50 Jahre später hat und mit welchen Dämonen sie zu kämpfen haben, ist es erforderlich.

Dies war mein fünfter Roman der Autorin und wie ich empfinde, der für mich Persönlichste, der ein Thema hat, was noch nicht in anderen Roman beschrieben wurde. Ich mag sehr gern ihre Bücher und dieses werde ich sicher nicht so schnell vergessen. Wer bereit ist, sich mit diesem dunklen Kapitel zu befassen, dem empfehle ich diesen Roman.