Persönlich, rau und schonungslos!

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bluemoon Avatar

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Ich mag den Stil der Autorin, sie schreibt sehr persönlich, emotional und provokant. Sie nimmt bei dem Thema kein Blatt vor den Mund. Was mich etwas hilflos zurückgelassen hat, waren die vielen türkischen und arabischen Ausdrücke, von denen nur ein sehr geringer Teil ins Deutsche übersetzt wurde. Leute mit türkischen oder arabischen Wurzeln haben daran eventuell große Freude, mir hat es das Verständnis erschwert. Şahin hat darüber hinaus ein Faible für Wortspiele, bei dem ich zwiegespalten bin: „Sie ging mir ehrlich gesagt gehörig nicht auf, aber gegen den Strich.“ finde ich einfach platt und einfallslos; Wortschöpfungen wie „Migrationsdefizit“ hingegen haben mir gut gefallen, weil sie den Spieß umdrehen und den "Almans" ein Defizit an Migration vorwerfen.

„Ich dachte darüber nach, wie absurd es war, dass man im Zusammenhang mit Krebs von „verlieren“ sprach. Schließlich können Betroffene gar nicht bis sehr wenig beeinflussen, ob ihr Krebs geheilt werden kann oder nicht. […] Die können zwar „wie eine Löwin kämpfen“, aber letztlich kämpft die Medizin gegen den Krebs, nicht wir. Also kann sich auch niemand hinstellen und behaupten, dass eine Person deshalb gestorben sei, weil sie nicht genug gekämpft hatte, oder den Krebs überstanden hätte, wenn sie mehr gekämpft hätte!“

Ja! Da trifft Şahin voll ins Schwarze! Davon hätte ich mir mehr gewünscht, denn zum Thema Krebs äußern sich leider viele Leute so unerträglich, dass es mehr Leute wie sie braucht, die solche schlimmen Kommentare und Formulierungen zerpflücken. Leider sind die Abschnitte, in denen sie aus ihrer Perspektive herauszoomt und das große Ganze betrachtet, selten, und sie bleibt sehr bei sich und ihrer Geschichte. Dabei ist Şahin eigentlich bekannt für ihre Wut und ihren Mut, Missstände in der deutschen Gesellschaft laut und unbequem zu kritisieren. Das hätte ich mir auch in diesem Buch gewünscht: etwa Aufklärung über Mythen, falsche Vorstellungen oder falschen Umgang mit dem Thema. Wie werden PoC mit Krebs zusätzlich benachteiligt, was muss sich hier ändern? Was sollten Almans, Gesunde oder Ärzt*innen wissen? Aber am Ende dieses Buches gibt es kein Fazit, keine Erkenntnisse, keine Forderungen oder Wünsche. Einige dieser Themen werden angerissen oder gestreift, aber dann für meinen Geschmack nicht ausreichend weiterverfolgt. Ich hätte mir gewünscht, zu lesen, warum Şahins Erfahrungen und ihre Perspektive auf die Erkrankung für mich und andere relevant sein können. Nichtsdestotrotz habe ich das Buch gerne gelesen.

Ich finde es sehr wichtig und hilfreich, über Krebs zu reden, sich auszutauschen und weder die Erkrankung noch die Patient*innen zu stigmatisieren. Daher ist jeder Erfahrungsbericht wertvoll und kann Betroffenen und deren Angehörigen Mut machen und Trost spenden. Dazu kann auch dieses Buch beitragen. Dennoch hätte ich mir persönlich von der Autorin ein bisschen mehr gewünscht: mehr Wut, mehr Analyse.

An Krebs erkrankte Menschen und deren Angehörige oder Freund*innen können hier sicher etwas für sich mitnehmen. Vor allem jüngere Menschen oder Menschen mit „Migrationsvordergrund“ können sich und ihre Erfahrungen hier wiederfinden. Grundsätzlich ist das Buch aber für alle interessant, die sich mit dem Thema aus einer Betroffenenperspektive beschäftigen wollen.