Interessanter Ansatz, aber sehr unrealistisch

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holdesschaf Avatar

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Lady Hazel Sinnett gehört zu den Reichen Edinburghs und ist seit Kindertagen so gut wie verlobt mir ihrem Cousin Bernard, dem Sohn von Viscount Almont. Doch Hazels Leidenschaft gilt der menschlichen Anatomie und der Medizin. Sie möchte unbedingt Chirurgin werden, ein für eine Lady unmögliches Ansinnen. Da ihr Vater im Auftrag der Royal Navy auf St. Helena weilt und ihre Mutter mit dem kleinen Bruder aus Angst vor dem grassierenden Römischen Fieber verreist ist, nutzt sie eine Verkleidung, um an Vorlesungen teilnehmen zu können. Als sie auffliegt und mit dem bekannten Arzt Dr. Beecham, ihrem großen Vorbild, eine Wette eingeht, nutzt sie die Dienste von Jack Currer, einem Auferstehungsmann, der für Geld Leichen liefert. Schnell fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Dann verschwinden immer mehr Menschen und Hazel entdeckt Seltsames an einigen Leichen. Auf der Suche nach einer Erklärung geraten sie und Jack in eine Sache, die sie alles kosten könnte.

Die Buchbeschreibung und das außergewöhnliche Cover haben mich sofort gepackt. Ich fand es sehr geschickt, wie auf letzterem die junge Frau und ihr Kleid zu einem Herzen arrangiert wurden. Der "Horror der frühen Medizin" ist gerade ein sehr beliebtes Thema und war neugierig, wie die Autorin dieses New York Times-Bestsellers dieses mit dem Schicksal einer jungen Frau und einer Liebesgeschichte verbindet. Der Anfang liest sich auch ganz gut. Hazel kommt mir zwar in ihrer Art zu experimentieren zunächst etwas kindisch vor, doch schon bald merkt man, dass sie genaue Vorstellungen davon hat, was sie erreichen möchte. Obendrein ist sie sehr belesen und wissbegierig, was wohl auch mit der Vernachlässigung durch die um den älteren Bruder trauernde Mutter zu tun hat. Es verwundert schon sehr, dass Lady Hazel Sinnett so ziemlich tun und lassen kann, was sie möchte. So schafft sie es auch leicht zu einer Medizin-Show, die sie fasziniert und in ihrem Berufswunsch noch bestärkt. Wirklich durchsetzen muss Hazel sich nie, denn niemand achtet darauf, ob sie die Konventionen der damaligen Zeit einhält. Das erscheint mir doch ziemlich seltsam, denn man war doch seinerzeit noch viel stärker auf den Ruf der Familie bedacht. Etwas unglaubwürdig.

Der Inhalt der im Klappentext erwähnt wird,, also die Wette mit Beecham, startet erst sehr spät ca. nach der Hälfte des Buches. Bis dahin erhält man einen sehr schönen Einblick in den Stand der Anatomie und der Medizin des späten 18. Jahrhunderts. Manchmal geht es auch ziemlich blutig zu, so dass man als Leser*in nicht allzu zimperlich oder empfindlich gegenüber abgetrennten Gliedmaßen, Leichen und Blut sein sollte. Die detaillierten Beschreibungen bewegen sich aber noch in einem erträglichen Rahmen. Ab der Hälfte gewinnt die Beziehung zwischen Jack und Hazel etwas an Bedeutung und die Autorin versucht ihr Bestes, hier zarte Gefühle einzuflechten, die ich ihr auch abnehme. Hazels Üben, die Hilfe ihrer Dienerschaft, als sie sich "Übungsmaterial" ins Haus holt, war mir dann wieder zu übertrieben. Spannend und gut lesbar ist dieser Teil der Geschichte allemal, auch wenn sich das Ganze etwas hinzieht, bis wir am Ende zu einer für mich vollkommen unglaubwürdigen Auflösung kommen. Natürlich ist mir bewusst, dass es sich bei Büchern durchaus um Fiktion handeln darf/soll, doch wenn man sich die Lösung der vorher geschaffenen Geheimnisse so einfach macht, fühle ich mich als Leser doch etwas hinters Licht geführt. Ich konnte nicht glauben, dass die Story auf den letzten Seiten noch ins Fantastische abdriftet, obwohl doch schon vorher alles darauf hingedeutet hat, dass es keine rationale Erklärung geben kann.

Ein bisschen tröstet mich, dass das Buch auch Fragen aufgreift, die man durchaus auch der Forschung heute noch stellen könnte, z.B. Darf man ein Leben nehmen, das eh verloren scheint? Sind arme Menschen weniger Wert als reiche? Die Frage, ob Frauen überhaupt von der Intelligenz her in der Lage sind, Ärztinnen zu werden, ist zum Glück hingegen schon vom Tisch. Insgesamt bin ich von diesem doch sehr hochgelobten Buch etwas enttäuscht. Vom Schreibstil her mutet es eher wie ein medizinischer Jane Austen Roman an (nur etwas leichter zu lesen), aber der Plot mit seiner in die Fantasy oder Science Fiction gehenden Art, überzeugt mich leider nicht. Schade, denn die Protagonistin finde ich wirklich gut ausgearbeitet. Für mich ein Buch, bei dem sich am besten jeder selbst ein Bild machen sollte, weil die Meinungen sehr stark variieren dürften. Von mir gibt es 3,5 Sterne für gut lesbare Unterhaltung mit Schwächen. Das Ende ist auf jeden Fall für eine Fortsetzung ausgelegt.