“Die Anleitung ein anderer zu werden” ein großes Buch, erschreckend ehrlich, nah.

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herrfabel Avatar

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“Der Satz den ich mir immer wieder vorsagte war: Ich muss alle Leben leben.”

Über diese und ganz viele andere Aussagen von Édouard Louis in seinem autofiktionalen Roman Anleitung ein anderer zu werden in der Übersetzung von Sonja Finck habe ich lange nachgedacht. Geht das überhaupt mit den verschiedenen Leben? Kann man nicht nur eins in den verschiedensten Ausprägungen leben? Was macht das Leben aus? Was treibt uns an? Und wie grenzt man in diesem Fall ein Leben vom anderen ab? In Louis’ vorherigen Büchern über Eddys Kindheit, seine Mutter, seinen Vater und die Gewalt, die ihm widerfahren ist, gibt er bereits verschiedenste Blickwinkel auf sein Leben frei – nun ist mit der “Anleitung ein anderer zu werden” nicht nur ein Rahmen für alles, was bisher veröffentlicht wurde, sondern auch eine sehr tiefgründige, offene Auseinandersetzung des 26 jährigen Édouard mit seinem Leben von der Kindheit bis hin zum berühmten Autor des Romans Das Ende von Eddy erschienen. Eddy, quasi Louis erstes Leben, gezeichnet durch eine unerträgliche Kindheit, schwierige familiäre Verhältnisse, Mobbing, dem ewigen Scheitern an den Erwartungen anderer und damit dann irgendwie auch an sich selbst. Er wollte schon in frühen Jahren aus diesem Umfeld ausbrechen, alles hinter sich lassen, Anschluss finden und endlich er selbst sein können. Pur, gemocht, angenommen, als der, der er ist, ohne diese Bedürftigkeit, diese Vorurteile und Armut. Aber so versuchte er stets in andere Rollen zu schlüpfen, sich anzupassen und damit doch wieder zu scheitern. Während er im Sport immer der letzte war, der übrig blieb, fand er während seiner Schulzeit im Theaterspielen nicht nur endlich das, worin ihn andere beneideten und ihm Aufmerksamkeit schenkten, sondern sah in ihm leider auch “die Weiterführung [seines] Lebens.”

“Ich hatte es von klein auf ganz von selbst gelernt, ich spielte Rollen, um zu verbergen, wer ich war, um mich zu schützen. Von klein auf versuchte ich, mein Begehren für die anderen Jungs zu verbergen, versuchte verzweifelt, männlicher zu sein, den klischeehaftesten Bildern von Männlichkeit zu entsprechen, ich lernte Namen von Fußballspielern auswendig, trank mit den anderen Jungen bis spät in die Nacht an der Bushaltestelle Bier, tat so, als interessierte ich mich für Mädchen, ich tat alles, damit die Schläge und Beleidigungen in der Schule aufhörten, alles, um die Anwesenheit der Beleidigung in meinem Leben abzumildern.”

Aber so einfach funktionierte das nicht. Er musste weiter gehen. Das Gymnasium bot ihm die erstbeste Gelegenheit sich zumindest sprachlich von seinen Eltern und seiner Herkunft zu entfernen. Die Flucht vom Dorf in die Kleinstadt, das fast schon unbändige Verlangen nach Wissen, seine neue beste Freundin Elena und ihre Eltern… Die Entfernung zu seiner eigenen Familie wächst stetig und doch kann er seine Herkunft und die damit verbundene Armut nie so ganz abschütteln. Eddy Bellegueule verwandelt sich schrittweise zu Édouard (Louis), der sich mit anderen, wohlhabenden Männern trifft, der neben neu gewonnenen Freundschaften, dem Umzug nach Paris auch neue Gesellschaftsschichten betritt, weiter an sich arbeitet, wächst und ein anderes, besseres Leben kennenlernt. Und auch wieder fällt, unbedingt Geld braucht, sich Männern anbietet, sich auf die Hilfe seiner Freunde verlässt, sich um weiter zu kommen, gezielt? neue Freunde sucht… alles für eine bessere Zukunft, Erfolg und den Drang es allen von früher zeigen zu wollen. Dabei setzte er vieles aus Spiel,
nicht nur seine Herkunft, Geld und vielleicht auch Ideale, sondern auch seine (neu kennengelernten) Freunde und am Ende auch immer sich selbst. Und das mit Erfolg, zumindest ist er seit der Veröffentlichung seines ersten Romans Das Ende von Eddy ein weltweit bekannter Autor, der mit seiner intensiven Auseinandersetzung mit seinem eigenen Leben und seiner offenen, schonungslos ehrlichen, sowie reflektierten Art Menschen begeistert, beeindruckt, für sie teilweise sogar ein Vorbild ist und sein Können mit jedem weiteren autofiktiven Roman erneut unter Beweis stellt. Die Anleitung ein anderer zu werden umreißt nun alles, was voran gegangen ist, gibt tiefere Einblicke und komplementiert die Erzählung, lässt allerdings auch die weitere Entwicklung und die Reife des Autors und seinen Blick auf die Welt erkennen. Einzig, ob es das ist, was Louis sich vorgestellt und ob er jemals wirklich in seinem Traum-Leben ankommt, bleibt (zu h)offen, wir können ihm lediglich als Leser*innen weiterhin auf seinem Weg und seiner Entwicklung mit jedem weiteren Buch folgen und ehrlich gesagt, freue ich mich sehr auf alles, was noch in irgend einer Art und Weise erscheinen wird.

“Die Geschichte meines Lebens ist eine Abfolge zerbrochener Freundschaften. Bei jeder Etappe meines Lebens, bei jeder Etappe meines Wettlaufs gegen mich selbst, ließ ich Menschen, die ich liebte, hinter mir. Ich entschied mich nicht bewusst dafür, und sie auch nicht: Ich setzte alles daran, mich zu verändern, und sie teilten meine Obsession nicht, sie blieben so, wie ich bei unserem Kennenlernen gewesen war, und irgendwann hatten wir nichts mehr gemeinsam: wir hatten uns nicht mehr zu sagen, wir verstanden uns nicht mehr. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich auf die Suche nach neuen Menschen zu begeben, die mich aufnahmen, bis mein Veränderungsbedürfnis mich abermals in ein neues Leben katapultierte und mich dazu zwang, auch sie zu verlassen.”

Verlassen, Zurücklassen, die Definition der Freundschaft und die Erklärung an Louis’ Vater und seine Freundin Elena, wieso er dieses und jenes machte, verfolgte und warum er u.a. die beiden während seiner radikalen Verwandlung zurückließ, sind neben Louis’ Entwicklungsbeschreibung die Kernpunkte dieses Romans. Dabei macht er sich nackt, angreifbar und zeigt sich verletzlich und doch stellt Louis sich auch über das, was geschah, berichtet von einer Zeit, die ihm zu dem machte, der er heute ist, ihm heute jedoch nur als Erklärung dient. Während man bei den anderen Büchern eher mitfühlte und erschüttert war, über das, was dem Jungen geschehen ist, zeigt er sich in diesem Buch nicht immer ganz so sympathisch, teilweise gar berechnend und doch beweisen gerade diese Zeilen die tiefe, schmerzhafte Ehrlichkeit, mit der er sich selbst und sein zurückgelassenes Ich betrachtet. Dieser Wunsch irgendwo dazuzugehören, in einer besseren Gesellschaft zu verkehren, sich irgendwie auch beflügelt weiter treiben zu lassen, den neuen Status halten zu wollen… ein steter Kampf mit Erfolg? Und irgendwie frage ich ich immer mehr, wie es wohl ist, zu wissen, dass man vieles eher durch Hilfe und andere geschafft hat, immer auf der Flucht ist, vor dem altem Ich und der sozialen Herkunft, und ob es einen trägt, dieses kurze Glück und sich irgendwann verfestigt oder ob einem alles immer so schmerzhaft bewusst ist wo man herkommt? Zeilen wie “Wenn ich zurückgehen könnte, würde ich diese Welt hassen, das weiß ich, trotzdem vermisse ich sie” machen das Dilemma der Verwandlung, den Abscheu vor der Vergangenheit und irgendwie auch das Vermissen deutlich. Und genau das macht diese Geschichte dann auch wieder so wahnsinnig traurig.

Ich frage mich, was man nach so einer Geschichte wohl sieht, wenn man in den Spiegel schaut? Sagt man sich dann Worte wie “Ich habe es geschafft”? Wie fühlt es sich wohl an, wenn man selbst beim Aufstieg immer auch ein Stück von sich selbst zurücklassen muss? Louis verarbeitet eben dieses hartnäckig versteckte Leben in seinen Büchern, macht das Leid, den Schmerz, die Verzweiflung, aber auch die schönen Momente und Begegnungen seiner Kindheit und Jugend sichtbar. Diese Naivität, Liebe und schönen Erinnerungen, die Lichtblicke und die große Hoffnung, dass sich irgendwann einmal alles zum besseren drehen wird… und so sind seine Bücher dann auch nicht nur eine Erinnerung an ein anderes Leben, das Festhalten seines alten Ichs, sondern auch ein Beweis, dass es mehr gibt als das stete Leid. Die Anleitung ein anderer zu werden ist ein sehr besonderes, aufwühlendes und intimes Buch, das nicht nur die Konturen von Louis’ jungem Leben nachzieht, sondern auch Lust macht sich dem Menschen hinter diesen ganzen Gedanken und der Tragik zu nähern, zu ihm aufzublicken, Eddy, seine Familie und den daraus hervorgetretenen Édouard zu entdecken und seinen Werdegang zu begleiten. Ich glaube, dieser Roman hat nicht nur wahnsinnig viele Fragen, Emotionen und Gedanken in mir aufgeworfen, sondern ist mein neues Lieblingsbuch von ihm, wobei nun der Drang alle vier (mit diesem 5 Bücher) noch einmal lesen zu wollen und zu gucken, ob man über die einzelnen Fragmente seines Lebens nun anders denkt und anderes wahrnimmt, ist schon immens.

“Ich glaube, ich schreibe, weil ich manchmal alles bereue, weil ich manchmal bereue, mich von der Vergangenheit abgekehrt zu haben, weil ich mir manchmal nicht sicher bin, ob meine Bemühungen zu irgendwas nutze waren. […] Ich schreibe, weil ich oft das Gefühl habe, mich nach der Zeit zurückzusehnen, als ich die Abende mit anderen Kindern aus dem Dorf an der Bushaltestelle verbrachte, als wir bis drei, vier Uhr morgens Whisky aus Plastikbechern tranken, den wir im Supermarkt gekauft hatten, so wie die älteren Jugendlichen vor uns, so wie mein Bruder vor mir, so wie mein Vater vor mir, ohne einen Gedanken an morgen oder an die Zukunft zu verschwinden.
Ich würde gern zurückgehen…”