Kann man alle Leben leben?

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sarah_catherine Avatar

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Wie viel Mut, wie viel Optimismus, wie viel Wut braucht man, um wirklich ein anderer zu werden?
Mit dem Ziel, alle Leben zu leben, verlässt Édouard Louis sein Elternhaus zunächst, um auf eine Schule in der nächstgrößeren Stadt zu gehen und so seine für ihn schier unerträglich ärmliche und tumbe Kindheit hinter sich zu lassen. Doch irgendwann ist ihm auch diese Stadt zu klein, zu gewöhnlich, zu langweilig und es zieht ihn nach Paris. Wieder beginnt er, sich ein neues Leben aufzubauen, wieder gibt es Hürden und Glücksmomente. Ich schätze, das nennt man Leben.
In "Anleitung ein anderer zu werden" schildert Édouard Louis schonungslos, wie er sich von seinem Elternhaus gelöst hat, um sich ein besseres Leben zu erobern. Im Rückblick spricht er gar von "Rache" an seinen Eltern und wie es ihm geradezu Freude bereitet hat, die wachsenden Unterschiede zwischen ihm und ihnen in Sprache und Lebensstil zu betonen - wohl wissend, dass dies für seine Eltern sehr verletzend sein muss. Getrieben wird er von dem Wunsch, ein anderer zu sein, und doch bleibt sein früheres Leben immer irgendwie der Bezugspunkt für all dieses Anderssein. Man kann wohl so weit laufen wie man will - sich selbst und die eigene Geschichte wird man nie so ganz los.
Dieses Buch liest sich viel weniger schwermütig, als ich anfangs dachte. Louis hat eine sehr greifbare und berührende Art zu erzählen, ohne dass er den Leser/die Leserin dabei ganz auf seine Seite zieht. Auch wenn die Geschichte viel Egoistisches hat, es menschelt sehr zwischen den Zeilen. Für mich war es sicher nicht das letzte seiner Bücher!