Ungeschönte Sektion eines Werdegangs

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Nach seinem Erstling „Das Ende von Eddy“ reflektiert Louis erneut seinen Werdegang. Verglichen mit der fast brachialen Abrechnung mit der Beschränktheit seines Elternhauses ist dies ein Buch der leiseren Töne. „Anleitung, ein anderer zu werden“ schaut genauer hin. Louis berichtet mit großer Ehrlichkeit und schont sich dabei nicht.

Oft rapportiert er sein Denken und Fühlen in atemlosen Kettensätzen, als würde sich, sobald er absetzt oder Luft holt, die Erkenntnis verflüchtigen. Er verwendet verschiedene Erzählweisen – von der Ich-Perspektive über den imaginären Dialog, vom personalen Erzähler bis zum fiktiven Brief.

Unter seinen Förderern gibt es insbesondere zwei Menschen, die er als entscheidende Einflüsse seines Lebens würdigt. Einmal Elena, seine Freundin auf dem Gymnasium in Amiens. Und dann Didier. Ja genau, DER Didier. Didier Eribon, den er über einen Liebhaber kennenlernt und der fortan sein (platonischer) Mentor sein wird.

Auch auf die verschiedenen Stufen seiner Verwandlung schaut er – die Scham, die Wut, das Gleichsein-Wollen, das Besser-sein-Wollen, das Sich-Rächen-Wollen, die Ernüchterung. Bemerkenswert luzide seine Beschreibung der körperlichen Seite seiner Wandlung, etwa wenn seine Gesichtsmuskeln die Hochsprache verweigern oder seine Hände mit dem Tischbesteck kämpfen. Erst aus der Perspektive der bürgerlichen Familie Elenas versteht er, was er und seine Eltern für ein Leben geführt haben. Er eignet sich alles an, was Elena und ihre Familie - die ihn quasi adoptiert - ihm beibringen können.

„Beim Schreiben merke ich, dass meine Geschichte vor allem die Geschichte einer langen Reihe von Frauen ist, die mich gerettet haben.“

In der Mitte des Romans ändert sich der Ton. Denn als Louis Didier kennenlernt, geht ihm auf, dass Amiens nicht genügt. Er will auf die École normale supérieure, DIE Eliteuni Frankreichs. Er will nach Paris. Und er will schreiben. Nicht aus Liebe zur Literatur; bis dahin hat er kaum etwas gelesen. Sondern um sich endgültig von seinem Herkunftsmilieu zu befreien, sich zu „retten“. Hier wird es mir manchmal zu dramatisch: „Ich schrieb, um mein Schicksal zu bezwingen.“ Seine „Rettung“ wird zur Obsession, der er alles opfert. Auch Elena, mit der ihn bis dahin eine fast symbiotische Freundschaft verbunden hatte. Er beschließt eine radikale Veränderung:

„Meinen Namen ändern (auf dem Amt?), mein Gesicht verändern, meine Haut verändern (Tattoo?), lesen (jemand anders werden, schreiben), meinen Körper verändern, meine Gewohnheiten ändern, mein Leben verändern (jemand werden).“

Seine Weggefährten müssen in fast allen Fällen feststellen, dass sie nicht das Ziel seiner Suche, sondern lediglich Bügelhalter für ihn sind. Zwar sieht Louis sein Verhalten nun durchaus kritisch, ist aber für meinen Geschmack immer noch zu nachsichtig mit sich selbst. In einer an Elena gerichteten Apologie beschreibt er sein Erleben in der Welt des Großbürgertums. „Für Szenen wie diese hatte ich dich verlassen – aber ich hatte das Recht dazu, ich denke, ich hatte das Recht dazu.“

Nachdem er „all diese Leben“ gelebt, „die Obszönität der Reichen“ erfahren, endlich (s)ein Buch veröffentlicht, Anerkennung bekommen, Lesereisen in alle Welt gemacht hat, kommt Leere auf. Weltekel sogar. Hatte er das richtige Ziel?

„Ich glaube, ich schreibe, weil ich manchmal alles bereue, wie ich manchmal bereue, mich von der Vergangenheit abgekehrt zu haben, weil ich mir manchmal nicht sicher bin, ob meine Bemühungen zu irgendetwas nutze waren. Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe.“

Die einzige Konstante des Chamäleons Éduouard ist die Homosexualität, aber auch sie muss dem Aufstieg dienen: „Mein Begehren öffnet mir die Tore zur Welt.“ Alles andere an ihm ist fluide, so hat Louis es entschieden. Oder war das gar nicht seine Entscheidung? Hat ihn die rigide Klassengesellschaft Frankreichs dazu gezwungen, weil er dort, wo er geboren worden war, niemals er selbst hätte sein dürfen?

Sein leidenschaftlicher, mitreißender Roman stellt genau diese Frage. Und ich frage mich, was wir von Édouard Louis lesen werden, wenn er sich irgendwann von seiner Biographie emanzipiert hat. Was wird er uns dann wohl zu sagen haben?