Leben für die Musik...

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Hannah wird 1921 in Kopenhagen geboren, sie ist das einzige Mädchen in einer jüdischen Familie mit 4 Jungen. Ihre Eltern flohen vor der Judenverfolgung aus Polen, ursprünglich wollten sie nach Amerika, sind aber nur bis Kopenhagen gekommen, da ihnen das Geld für eine Weiterreise fehlte. Hannah´s Vater Yitzhak arbeitet in seiner eigenen Schneiderei und Hannah´s Mutter Bruche kümmert sich um Haushalt und Familie. Drei von Hannah´s Brüdern leben von und für die Musik und auch ihr vierter Bruder würde das, wenn er nicht mit nur einer gesunden Hand geboren worden wäre. Hannah wächst mit Musik auf und schon in jungen Jahren steht für sie fest, dass sie Pianistin werden wird. Ein Leben ohne Musik ist für sie nicht denkbar. Doch ihre Mutter hat andere Pläne für ihre Tochter, Pläne mit denen sie Hannah psychisch und physisch unter Druck setzt, ihr droht und heftigst aufbegehrt sobald Hannah auch nur andeutet, dass sie ihren eigenen Weg gehen möchte...
Für mich ist „Annas Lied“ von Benjamin Koppel eines dieser ganz besonderen Bücher, die in mir eingezogen sind, denen ich einen gemütlichen Raum eingerichtet habe, den ich jederzeit betreten kann. Ein Herzensbuch, ein Seelenbuch.
Hannah, ihr Leben, ihr Schicksal, ihre Familie werde ich nicht wieder vergessen. Das Leben einer Frau, die von frühester Kindheit an den Traum hatte, Pianistin zu werden, die liebte, zu ihren Brüdern aufschaute, der das Gefühl vermittelt wurde, in einer großen sich um sie sorgenden und kümmernden Familie aufzuwachsen. Einer Frau, die sehr früh in ihrem Leben erfahren musste, dass für sie andere Regeln gelten als für ihre Brüder, dass sie viel weniger selbstbestimmt entscheiden und leben kann. Einer Frau die den zweiten Weltkrieg in Dänemark und Schweden erlebte, auf der Flucht. Die während dieser Zeit und ihr ganzes langes Leben liebte. Eine so innige Liebe, wie sie vielleicht nur wenige Menschen erleben dürfen. Eine Frau die an ihrem Schicksal nicht zerbrach, weil sie die Musik in ihrem Herzen trug. Dieses Buch ist unter anderem eine Liebeserklärung an die Musik. Sich selber spüren indem man Musik hört oder selber musiziert. Musik, welche die Wellen und Wogen des Lebens ein bisschen leichter ertragen lässt. Musik die einen mit Menschen verbindet, die man seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Musik als Sehnsucht nach einem anderen Leben. Musik als Fluchtmöglichkeit aus der Gegenwart. Musik die vergessen und träumen lässt. Hannah träumt viel, in der Nacht und auch am Tag, sie bewegt sich zwischen der Realität und ihren eigenen Traumbildern. Hätte sie ohne ihre Träume und ohne die Musik ihr Leben ertragen und aushalten können? Diese Frage hat sich mir während der Lektüre immer wieder gestellt. Was macht es mit einem Menschen, wenn man so viel, das einem alles bedeutet nicht leben kann und darf? Ich habe in Büchern selten eine so empathische Protagonistin erlebt, wie Hannah sie für mich ist. Sie sieht was andere nicht sehen, fühlt, was andere nicht fühlen, mit einem sehr großen Herzen und unendlichem Verständnis, schicksalsergeben. Hannah und ihre Freundin Elisabeth haben ihre Briefe aneinander mit „Liebe und Kunst“ unterschrieben. Vielleicht haben Liebe und Kunst Hannah am Leben gehalten?
Es gibt immer mehr Autoren und Autorinnen die zwar sehr gut schreiben können, im Grunde auch über interessante Themen, aber ich meine den Texten anmerken zu können, dass über etwas geschrieben wurde, fast ohne persönliche Beziehung, die Texte wirken kalt, konstruiert, so interessant manche Protagonisten auch sind, fühlen sie sich für mich nicht authentisch an, bleiben kalt und unnahbar. In „Annas Lied“ dagegen ist jeder Charakter der auftaucht ein Unikat, voller Leben in all seinen Facetten, lebendig, quirlig, ich meine die tiefe Verbundenheit des Autors Benjamin Koppel mit seinen Figuren zu spüren. Besonders am Ende des Romans, wo sich ein Kreis schließt, wo offen gebliebene Fragen Antworten finden, wo man spürt, dass ein Leben nie nur schwarz und weiß ist, sondern voll von den verschiedensten bunten Tönen, dass eine Seite auch immer eine Gegenseite hat.
Wer selber die Musik im Herzen trägt, wer sich für Lebensgeschichten und Familiengeschichten interessiert, wer gerne Romane liest die über einen langen Zeitraum wandeln, wer bei einem Roman tief empfinden möchte, der sollte darüber nachdenken, ob er „Annas Lied“ von Benjamin Koppel lesen möchte. Meine Empfehlung könnte inniger nicht sein.