Ein Roman über die Gegenwart der Vergangenheit
Ich-Erzählerin von Mithu Sanyals neuem Roman "Antichristie" ist die Drehbuchautorin Durga. Sie ist in Deutschland mit deutscher Mutter und indischem Vater aufgewachsen, ist verheiratet mit einem Schotten und reist zu Beginn des Romans für einen zehntägigen Writers Room nach London, um an einer Serie zu arbeiten, die auf Agatha Christies Romanen beruht. Sie gerät jedoch in eine Art Zeitstrudel und ist im einen Moment noch im London des 21. Jahrhunderts, dann findet sie sich plötzlich im Jahr 1906 wieder. Es handelt sich aber gar nicht um eine 'klassische' Zeitreise, denn sie befindet sich noch dazu in einem anderen – männlichen – Körper und spricht, ohne es zunächst zu merken, eine fremde Sprache – Bengali. Auch untypisch für die Zeitreise ist, dass Durga nicht ab diesem Zeitpunkt konstant in der Vergangenheit ist, bis sie einen Weg zurück in ihre eigene Zeit findet. Vielmehr wird nun immer wieder zwischen Durgas Erlebnissen in der Vergangenheit und denen in der Gegenwart gesprungen und die beiden Zeitstränge damit parallelisiert. Dadurch kommen zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen damals und heute zum Vorschein und es wird klar, dass die Vergangenheit gar nicht so fremd und die Themen von damals gar nicht so anders sind als heute.
„Die Vergangenheit ist eine Wunde im Gewebe der Welt, die sich weigert zu heilen.“ (461)
Dieses Verwischen der Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart und das Dekonstruieren von Unterschieden finde ich besonders gelungen und absolute Stärken des Romans. Auch die zentralen Themen wie Geschichte, Rassismus, Kolonialismus, Ausbeutung, Religionen, Unterdrückung und Gewalt durch das ‚alles verschlingende britische Empire‘ und die indische Unabhängigkeitsgeschichte sind durchweg interessant und spannend eingeflochten in die Geschichte um Durga. Die vielen Verknüpfungen und Fäden zu entdecken, die sich durch diese Geschichte ziehen, war für mich ein Genuss. Und auch sprachlich ist das Buch, wie schon Identitti, ein Meisterwerk. Auch ein gewisser Humor kommt dabei nicht zu kurz: „Manchmal musste man nur 114 Jahre in die Vergangenheit reisen, um eine neue Perspektive auf die Konflikte mit seiner Mutter zu bekommen.“ (332)
So spannend und mitreißend ich viele Stellen auch fand, so gelangweilt war ich jedoch an anderen Stellen. Das Buch ist stark geprägt von Gesprächen und manche davon haben mich einfach überhaupt nicht interessiert. Hinzu kommt, dass das Personal dieses Romans viel zu groß ist; die meisten der männlichen Figuren konnte ich leider kaum bis gar nicht auseinanderhalten. Die Figurenübersicht am Ende des Romans listet über 40 Personen auf und die meisten davon haben tatsächlich existiert – was spannend ist – aber insgesamt habe ich trotzdem das Gefühl, sie nach 500 Seiten kaum näher kennengelernt zu haben. Dann passiert – wie in einem echten Kriminalroman von Agatha Christie oder Arthur Conan Doyle – ein Kriminalfall. Und ich muss zugeben: Was da genau passiert ist, habe ich nicht verstanden. Irgendwas mit einem Foto einer Frau und einem orientalischen Messer in einem ausgestopften Kissen und dafür wird nun jemand verhaftet und die Todesstrafe verhängt. Hä? Und dann kommt auch noch Sherlock Holmes und ermittelt, nicht ohne seinen berühmten und schon tausend mal gehörten Satz, dass wenn man das Unmögliche ausschließt, ist das, was übrig bleibt die Wahrheit, bla bla bla… Wenn es schon in der Gegenwart um die Romane von Agatha Christie geht, warum tritt denn nicht Hercule Poirot oder Miss Marple auf, warum eine weitere überhebliche, unfreundliche Inszenierung von Sherlock Holmes, auf die die Welt nicht gewartet hat? Soll Sherlock Holmes ein weiterer der vielen Antichristies in diesem Roman sein?
Auch wenn mich die angesprochenen Punkte stören, ist das Buch insgesamt erhellend und einfach sehr, sehr wichtig. Denn es führt uns vor Augen, dass unser Blick auf Geschichte nicht nur subjektiv, sondern einfach einseitig ist. Und dass Geschichte nicht abgeschlossen ist, sondern vielmehr „unfinished business“ (Salman Rushdie). Gerade im Punkt Kolonialismus muss noch vieles aufgearbeitet werden und auch in Deutschland liegt der Fokus, wie Durga immer wieder bemerkt, so stark auf Aufarbeitung und Erinnerung des Holocaust, dass andere ebenfalls wichtige Auseinandersetzungen unter den Tisch fallen:
„Und während Durga in Köln-Mülheim in jedem Schuljahr den Nationalsozialismus durchnahm, als wäre er die einzige Geschichte Deutschlands, wurde hindu-muslimische Geschichte in Indien aus den Geschichtsbüchern herausredigiert. Wir leben in der schlechtesten aller möglichen Welten: Wir haben vergessen, aber nicht vergeben.“ (396)
„Die Vergangenheit ist eine Wunde im Gewebe der Welt, die sich weigert zu heilen.“ (461)
Dieses Verwischen der Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart und das Dekonstruieren von Unterschieden finde ich besonders gelungen und absolute Stärken des Romans. Auch die zentralen Themen wie Geschichte, Rassismus, Kolonialismus, Ausbeutung, Religionen, Unterdrückung und Gewalt durch das ‚alles verschlingende britische Empire‘ und die indische Unabhängigkeitsgeschichte sind durchweg interessant und spannend eingeflochten in die Geschichte um Durga. Die vielen Verknüpfungen und Fäden zu entdecken, die sich durch diese Geschichte ziehen, war für mich ein Genuss. Und auch sprachlich ist das Buch, wie schon Identitti, ein Meisterwerk. Auch ein gewisser Humor kommt dabei nicht zu kurz: „Manchmal musste man nur 114 Jahre in die Vergangenheit reisen, um eine neue Perspektive auf die Konflikte mit seiner Mutter zu bekommen.“ (332)
So spannend und mitreißend ich viele Stellen auch fand, so gelangweilt war ich jedoch an anderen Stellen. Das Buch ist stark geprägt von Gesprächen und manche davon haben mich einfach überhaupt nicht interessiert. Hinzu kommt, dass das Personal dieses Romans viel zu groß ist; die meisten der männlichen Figuren konnte ich leider kaum bis gar nicht auseinanderhalten. Die Figurenübersicht am Ende des Romans listet über 40 Personen auf und die meisten davon haben tatsächlich existiert – was spannend ist – aber insgesamt habe ich trotzdem das Gefühl, sie nach 500 Seiten kaum näher kennengelernt zu haben. Dann passiert – wie in einem echten Kriminalroman von Agatha Christie oder Arthur Conan Doyle – ein Kriminalfall. Und ich muss zugeben: Was da genau passiert ist, habe ich nicht verstanden. Irgendwas mit einem Foto einer Frau und einem orientalischen Messer in einem ausgestopften Kissen und dafür wird nun jemand verhaftet und die Todesstrafe verhängt. Hä? Und dann kommt auch noch Sherlock Holmes und ermittelt, nicht ohne seinen berühmten und schon tausend mal gehörten Satz, dass wenn man das Unmögliche ausschließt, ist das, was übrig bleibt die Wahrheit, bla bla bla… Wenn es schon in der Gegenwart um die Romane von Agatha Christie geht, warum tritt denn nicht Hercule Poirot oder Miss Marple auf, warum eine weitere überhebliche, unfreundliche Inszenierung von Sherlock Holmes, auf die die Welt nicht gewartet hat? Soll Sherlock Holmes ein weiterer der vielen Antichristies in diesem Roman sein?
Auch wenn mich die angesprochenen Punkte stören, ist das Buch insgesamt erhellend und einfach sehr, sehr wichtig. Denn es führt uns vor Augen, dass unser Blick auf Geschichte nicht nur subjektiv, sondern einfach einseitig ist. Und dass Geschichte nicht abgeschlossen ist, sondern vielmehr „unfinished business“ (Salman Rushdie). Gerade im Punkt Kolonialismus muss noch vieles aufgearbeitet werden und auch in Deutschland liegt der Fokus, wie Durga immer wieder bemerkt, so stark auf Aufarbeitung und Erinnerung des Holocaust, dass andere ebenfalls wichtige Auseinandersetzungen unter den Tisch fallen:
„Und während Durga in Köln-Mülheim in jedem Schuljahr den Nationalsozialismus durchnahm, als wäre er die einzige Geschichte Deutschlands, wurde hindu-muslimische Geschichte in Indien aus den Geschichtsbüchern herausredigiert. Wir leben in der schlechtesten aller möglichen Welten: Wir haben vergessen, aber nicht vergeben.“ (396)