Viele Ideen, viele Namen, viele Verweise, viel Durcheinander

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
angie99 Avatar

Von

Agatha Christie meets Durga meets London meets Dr. Who meets India Housa meets...

Die Story beginnt rasant und schwarzhumorig. Durga erfüllt den letzten Willen ihrer verstorbenen Mutter Lila und verstreut (halblegal, denn in Deutschland besteht Friedhofszwang: „‘What’s that supposed to mean? Stay in your grave oder du bekommst einen Strafzettel?‘“ (S. 13) ihre Asche – dummerweise gegen den Wind. Danach bricht sie übereilt auf nach London zu einem Writer’s Room, der eine entkolonialisierte Version eines Agatha-Christie-Krimis erarbeiten soll, wogegen schon im Vorfeld demonstriert wird.

... Queen meets Krone meets Diamant meets Kolonialismus meets Ungerechtigkeit meets ...

Um dort durch die Zeit zu fallen, im Jahre 1906 als Sanjeev aufzutauchen und in einer WG indischer Studenten unterzukommen. Und dieses sogenannte India House hat es in sich, denn hier versammelt sich eine ganze Riege verkappter Revolutionäre, die Indien von den Briten befreien möchte. Wenn nötig, auch mit äußerster Gewalt… - Tja, und wer jetzt denkt, dass die Autorin hier ein bisschen arg dick aufträgt, der wird bald eines Besseren belehrt. Die Fantasie beschränkt sich alleine auf die Zeitreise, denn India House und seine (mittlerweile zumeist berühmten, berüchtigten und verehrten) Bewohner hat es tatsächlich gegeben. Ihr Kampf, ihre Karrieren, ihr Leben und ihr Sterben haben in der indischen Geschichte dicke Spuren hinterlassen, nur sind ihre Namen

(... Savarkar meets Madan Lal Dhingra meets Shyamji meets Aiyar meets Chatto meets…)

hierzulande gänzlich unbekannt. Weil… ja, weil erstens sehr schwer auszusprechen und zweitens: was juckt uns der indische Freiheitskampf?!

... Indien meets Hinuds meet Muslime meet Gemetzel meets Gewalt meets Befreiung meets...

Nun, Mithu Sanyal versteht es also vorzüglich, hier ein Kapitel unbekannte Geschichte freizulegen und für unsere mitteleuropäische Horizonte zugänglich zu machen, indem sie es mit der Familiengeschichte einer Halb-Deutsch-halb-Inderin und den woken Versuchen der Entkolonialisierung einer Schriftsteller-Gruppe in der Gegenwart verbindet.

Allerdings wird das anfänglich hohe Erzähltempo extrem gedrosselt, indem sich die Autorin nach den ersten Clashs darauf konzentriert, in sprunghaften Dialogen, gespickt mit wikipediaartigen Einwürfen, die politischen und ideellen Ansichten der einzelnen Persönlichkeiten darzulegen.
„‘Dong Du!‘ rief Savarkar begeistert. (…) Der vietnamesische Revolutionär Phan Boi Chau war nach dem Tsushima-Strait-Sieg nach Japan gegangen und hatte vor einem Jahr dort Dong Du gegründet, um junge Studenten militärisch auszubilden. ‚Du weißt, dass ich nie in Tokio war?‘, fragte ich Savarkar, und er antwortete: ‚Ja, aber Gandhi weiß das nicht.‘ Zu Gandhi sagte er: ‚Ich will nicht die Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten, ich will Unabhängigkeit!‘ ‚Was ist das eine wert ohne das andere?‘, fragte Gandhi zurück. ‚Richtig! Was wäre Erlösung ohne Unabhängigkeit!‘ ‚Oder zumindest Home Rule‘, fiel Shyamji ein, der keine Gelegenheit ausließ, darauf hinzuweisen, dass er der Gründer des indischen Zwillings der Irish Home Rule Society war.“ (S. 137)
Dieses Name-und-Ereignis-Dropping wirkt sowohl überfordernd, als auch extrem ermüdend. Dazu entgleitet einem bei der hohen Zahl an Figuren irgendwann der Überblick, wer jetzt wer ist, zumal keine von ihnen wirklich Charakter zeigen kann, sondern mehr als Stichwortgeber funktionieren muss.

... Parsley meets Sage meets Rosemary meets Crime meets Sherlock Holmes meets...

Erst im letzten Drittel kommt dann – mit einem „richtigen“ Locked-Room-Kriminalfall – noch etwas Schwung in die Story, kann die extremen Längen im Mittelteil aber nicht mehr wett machen. Denn es bleibt beim Eindruck, dass die Fragestellungen und Verknüpfungen zwar interessant zu verfolgen wären, aber mehr oder weniger nur angesprochen werden, um dann wieder in der Versenkung eines überstilisierten Textes unterzugehen.

Zurück bleibt ein sehr gemischtes Gefühl, ein gar schon Klischee-Indien-artiges Gefühl der Widersprüche. In diesem Buch gibt es insgesamt eine hohe Sprachfertigkeit zu bewundern, aber leider auch völlig unnötige und verwirrende Abschnitte, die man ersatzlos hätte streichen können (Stichwort: Kapiteleinführungen). Es gibt einiges Wissenswertes zu entdecken, eine tiefergehende Bearbeitung und eine emotionale Verbundenheit zu diesem Wissen fehlt jedoch komplett. Der Roman sprudelt nur so von Ideen, die ich persönlich als witzig oder mindestens als kreativ empfinde, erstickt aber sozusagen selber an dieser Neu-Gier.
Immerhin: zitierwürdig.
Immerhin: wissenswert.
Immerhin: witzig.
Auch wenn ich diesen Roman ab und zu gerne verwünscht hätte, weil er schon mit seinen 500 Seiten zu lang ist und diese sich so ziehen wie 1000, völlig von der Lektüre abraten würde ich nicht. Dafür ist er dann doch wieder zu gut. ...

Savarkar meets Hitler meets Deutschland meets Buchpreis meets Longlist ...