Bavaria und die Asphaltengel

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bavaria123 Avatar

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Das besonders Schöne am Vorablesen ist, dass man Bücher bekommt, die man sich möglicherweise selbst nicht unbedingt gekauft hätte. Ich bin ja schon auch ein wenig coverorientiert und dieses hätte mich nicht gleich angesprochen, obwohl die kräftige Farbe einem nun wirklich ins Auge springt.
Auch der Klappentext wäre nicht schlechtweg ein Fangnetz für mich gewesen. Aber die ersten Seiten, die als Leseeindruck veröffentlicht waren, haben mich dann doch schon mal in den Bann gezogen.

Der Schreibstil der Autorin ist anfänglich jedoch gewöhnungsbedürftig. Sie springt ein wenig in den Zeiten herum, sie mischt sehr kurze Sätze mit ausgesprochen langen, sie bedient sich eines außerordentlich trockenen Humors.
Die Geschichte beginnt im Oktober 2005 und endet im August 2008. Aber der Zeitablauf wird nicht chronologisch durchgeführt.
Mal wird über Samira geschrieben, mal erzählt Leila. Wenn Leila selbst das Wort führt, dann nutzt sie eben die Sprache der Jugendlichen.
Es fließen finnische Vokabeln ebenso ein wie arabische.
Das hat mich zu Beginn dann doch erst einmal verwirrt. Aber dann habe ich mich doch daran gewöhnt und im Nachhinein muss ich sagen, dass das alles gar nicht verkehrt gewesen ist. Es ist unkonventionell, jedoch durchaus sinnig und durchdacht.
Die verwendeten fremden Vokabeln sind kursiv gedruckt und werden im Glossar dann übersetzt.

Die Geschichte selbst hat brandaktuelle Themen als Grundlage. Es geht um Menschen mit Migrationshintergrund. Doch nicht nur das, auch Mobbing unter Schulkindern bzw. Jugendlichen und deren soziale Hackordnung werden angesprochen. Schulalltag, gescheiterte Ehen, verlassene Eltern, das Zurechtkommen mit der Pubertät. Ein ganz geballter großer Strauß an Problemen der Gesellschaft und auch Angelegenheiten für jeden selbst.
Und diese Vielfalt wird sehr wirklichkeitsnah geschildert. Das ist spannend, da gefährliche Situationen zu bewältigen sind. Das ist nachdenklich machend, weil es eben die alltägliche Realität darstellt. Die Geschichte spielt in Finnland, könnte aber ebenso in jedem anderen nordwestlichen europäischen Staat angesiedelt sein.

Die Darstellung der Protagonisten empfinde ich als überwiegend gelungen.
Leila ist eine trotzige, aber sehr sympathische Pubertierende. Sie ist ein Rammbock zwischen den Menschen ihres Umfeldes. Sie liebt ihre Schwester, empfindet Hassliebe zu einer Freundin, hat ganz viel Empathie. Mit ihren jungen Jahren muss sie sich mit gescheiterten Ehen, Mobbing, Ausgrenzung, Ausländerfeindlichkeit, Schulstress, einer dominierenden Mutter und einem aufgezwängten Glauben auseinander setzen. Am liebsten würde man dieses Mädel mal in den Arm nehmen und ihr Halt und Wärme geben.

Samira ist acht Jahre älter als Leila und versucht, ihren Weg zu gehen. Aber auch sie macht sich sehr viele Gedanken. Sie sorgt sich um ihre Schwester und um ihre Freundin. Und sie folgt ihrem Herzen.

Die Mutter Sarah ist eigentlich eine aufgeklärte Finnin, die aber extrem zum Islam konvertiert. Die wirklichen Beweggründe in den Extremismus zu verfallen sind mir aber nicht sehr nachvollziehbar herübergekommen.

Sehr blass ist das Bild von Farid, dem Vater geblieben. Er ist farbig und stammt aus dem nordafrikanischen Maghreb. Sein Geld verdient er als Busfahrer. Wie seine Trennung von der Familie verlaufen ist, was ihn bewegt, ob er sich nach seinen Töchtern sehnt bleibt dahin unbeantwortet. In diesem Buch haben eh die Frauen die absolute Mehrzahl an Profilen. Aber von diesem Mann hätte ich doch gern ein wenig mehr erfahren.

Ich empfehle dieses Buch sehr gern weiter. Es hat mich wirklich in den Bann gezogen und es versteht, eine aktuelle Thematik mit viel Gefühl und Spannung anzufassen. Aufgrund der angesprochenen Punkte vergebe ich 4 Sterne.