Nile - eine labile Persönlichkeit

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tokall Avatar

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„Atme!“ möchte man dem Leser zurufen, sobald er das Buch durchgelesen hat, denn dieses erzeugt eine so unglaublich packende Atmosphäre, dass man beim Lesen keine Pause einlegt. Ich hatte es an einem Tag durch. Selten hat für mich ein Titel so gut zu einem Buch gepasst wie dieser. Denn atmen muss auch die Protagonistin Nile in regelmäßigen Abständen, wenn sie von Panik überwältigt wird, weil sie sich solche großen Sorgen um ihren Partner Ben macht, der plötzlich spurlos verschwunden ist, als sie aus der Umkleidekabine kommt, nachdem sie ein Kleid für die bevorstehende Hochzeit anprobiert hat. Der Thriller hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, zunächst habe ich mich auf die sorgenvollen Gedanken von Nile eingelassen, die Ben sucht, dann war ich irgendwann irritiert darüber, was für absurde Ideen Nile dabei entwickelt. Ratlos und suchend raste ich durch die nächsten Seiten, als sie Bens baldige Ex-Frau Florence aufsucht und diese um Hilfe bittet, diese aber ein für Nile nicht durchschaubares Spiel treibt. Flo hat ein Geheimnis und als Nile es durchschaut, kommt es zu Gewalt. Und spätestens ab diesem Zeitpunkt war ich verunsichert, ob Nile vielleicht eine falsche Wahrnehmung der allgemeinen Situation hat und ob ich ihr als Leser „auf den Leim gegangen bin“, weil ich mich zu sehr auf ihre Perspektive eingelassen habe. Mit Nile stimmt etwas nicht, das spürt man als Leser und genau in der Mitte des Buches weiß man dann auch warum. Ihr ist etwas widerfahren, was sie labil hat werden lassen. Und dieser Vorfall bestimmt noch immer ihr Leben, er hat sie psychisch krank werden lassen. Sie hat ihn verdrängt, doch es holt sie wieder ein, es lässt sie instabil werden, ihre Wahrnehmung ist nicht mehr zuverlässig. Und dieses Wissen hat mich als Leser in der zweiten Buchhälfte skeptisch und misstrauisch werden lassen. Ich wusste nicht mehr, was ich Nile glauben kann, und gleichzeitig tat sie mir so leid. Sie hätte Hilfe benötigt, bekam aber keine. Und durch den Verlust von Ben und durch ihre Sorgen um ihn gerät sie immer mehr in einen psychotischen Zustand, sie hat Wahnvorstellungen, erlebt einen Realitätsverlust. Für den Leser löst sich auf den letzten Seiten ein großer Teil des Rätsels, einige Rekonstruktionsarbeit des Geschehens bleibt auch dem Leser überlassen, doch Nile bleibt in ihrer psychisch kranken Welt gefangen.

Dieser Roman ist erzählerisch grandios und sehr spannend gestaltet, als Leser ist man gefesselt, man wird emotional „durchgerüttelt“, denn immer wieder kommt es zu überraschenden Wendungen. Die Darstellung des inneren Zustands von Nile ist überzeugend und gelungen. Das wirklich einzige, was nicht direkt für mich plausibel war: Wie konnte Nile mit Ben bei ihrer Vorgeschichte so einfach im Bett landen?