Mutige Frauengeschichte

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marcello Avatar

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Auch wenn ich beileibe noch nicht alles von Taylor Jenkins Reid gelesen habe, so habe ich sie mit allen Neuerscheinungen immer auf dem Schirm. Selbst wenn stilistisch immer etwas sehr Typisches für die Autorin zu erkennen ist, so finde ich umgekehrt, dass sie mit ihren Geschichten immer etwas sehr Spezielles erzählt, sodass jedes für sich unverwechselbar ist.

Das gilt auch extrem für „Atmosphere“. Entweder Reid probiert sich über die Art aus, wie sie etwas erzählt, Stichwort „Daisy Jones and the Six“, oder aber sie erschafft Welten, in denen kämpferische Frauenfiguren ihren Weg finden müssen. „Atmosphere“ hat mich sehr an den oscarprämierten Film „Hidden Figures“ erinnert, aber quasi als Nachfolger. Im Film wurde die leider eher unbekannte Geschichte von drei Schwarzen Frauen erzählt, die in den 1950er und 1960er Jahren für die NASA gearbeitet haben. Reid wiederum verlegt ihr Geschehen in den 1980er, also auf jeden Fall 20 Jahre später. Hier haben wir es mit einer komplett fiktionalisierten Geschichte zu tun, wenn es historisch auch korrekt ist, dass in den 80ern immer mehr Frauen Teil von Space-Programmen wurde. Sie wurden nur nie so berühmt wie ihre männlichen Gegenstücke. Aber „Atmosphere“ zeigt für mich auch deutlich auf, dass es nie darum ging, die Ersten für etwas zu sein, sondern sich die eigenen Träume zu erfüllen.

Ich habe mich informiert, dass Reid für ihr insgesamt schon neuntes Buch viel Recherche betrieben hat und das ist dem Buch auf jeden Fall anzumerken. Auch wenn ich wahrlich keine Expertin bin, aber da wird bereits mit der Beschreibung einer Katastrophensituation in den Roman starten, war ich sofort drin. Auch später gibt es viele Beschreibungen, die man nicht einfach aus dem Ärmel schütteln könnte. Dementsprechend war Reid hier sehr bemüht, alles so getreu wie möglich abzubilden. Ich finde auch, dass ihre Beschreibungen bei mir echtes Kopfkino ausgelöst haben. Sicherlich hat auch geholfen, dass ich „Atmosphere“ als Hörbuch hatte und Sandra Voss mich als hauptsächliche Stimme von Joan durch das Geschehen geleitet hat. Sie hat eine Portion Emotionalität in die besonders dramatischen Momente eingebracht, die die Bilder im Kopf sicherlich befeuert hat. In jedem Fall ist das Astronauten-Dasein eine gute Wahl gewesen, weil wirklich nur ein sehr kleiner Anteil von Menschen überhaupt daran beteiligt ist (mal sehen, wie das mit dem Raumtourismus durch Bezos, Musk und Co. noch weitergeht) und weil es daher auch einfach spannend ist, in diese Welt einzutauchen. Wir bekommen auch echt viel geboten. Neben diesem dramatischen Einsatz, der die Geschichte rahmt, ist es auch Joans Ausbildung und das habe ich gerne mitverfolgt.

Das Buch ist aber auch nicht einfach nur eine Astronautengeschichte, weil es um Joan Goodwin mit allen Facetten ihres Lebens geht. Genau das ist auch der Teil, der mich am meisten an Reids Stilistik erinnert hat. Neben ihrem irgendwann entflammten Traum, Astronautin zu werden, ist Joan mitten in einer komplexen Familiensituation, weil ihre Schwester ungeplant schwanger wird, doch im Grunde hätte Joan das Kind auch selbst zur Welt bringen können, weil sie schnell wie die Ersatzmutter agieren muss. Dann haben wir noch Joans sexuelles Erwachen als zweiten großen Schwerpunkt. Joan wirkt durch manche Dinge manchmal etwas naiv, weil sie alt genug ist, um eigentlich schon über andere mehr mitbekommen zu haben, aber es passte für mich ganz gut in die 80er, die mit uns heute, 40 Jahre später, nicht zu vergleichen sind. Gerade die Familiengeschichte ist auch etwas, bei der ich gut nachvollziehen konnte, warum Joan da so blind agiert, weil die eigenen Familienmitglieder diese blinden Flicken gut provozieren können. Aber es war auch großartig, wie alle drei Themenkomplexe immer wieder ineinandergegriffen haben. Es hat mir insgesamt auch gezeigt, dass eine Liebesgeschichte nicht immer alles ist. Überzeugende Charaktergeschichten muss man über ein Gesamtkonstrukt rüberbringen und das war hier definitiv der Fall.

Warum ich jetzt letztlich nicht zu fünf Sternen greife, das liegt vielleicht etwas darin begründet, dass für mich das Tempo der Handlung nicht immer stimmte. Reid wollte einen längeren Zeitraum erzählen, was auch absolut richtig war. Aber es war für mich zu sehr im Ungleichgewicht, wo sie wie viel Zeit aufgewendet hat. Gerade im ersten Drittel gab es Stellen, die etwas kürzer hätten sein können, während es am Ende übertrieben schnell ging. Ich hätte keinesfalls verlangt, die Handlung grundsätzlich länger zu gestalten, nein, es war gewichtig genug, aber das Verhältnis untereinander, das war ausbauwürdig.

Fazit: Reid hat mich wieder gepackt bekommen, weil auch „Atmosphere“ eine dichte Erzählung ist, die mit vielen Facetten überzeugt. So mag ich mutige und individuelle Frauengeschichten am liebsten. Auch wenn die erzählten Zeiten gemischt mit Zeitsprüngen besser hätten ausbalanciert werden können, ist es eine sehr empfehlenswerte Lektüre.