Neues Leben in Kriegszeiten

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elke seifried Avatar

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Linda Winterberg hat mich schon mehrfach gelungen in die Vergangenheit entführt und das ist ihr auch mit diesem bewegend, fesselnden Auftakt in ihre Hebammen Saga wieder einmal gelungen.

Schweren Herzens steigt Luise in ihrem kleinen Dorf in Ostpreußen in den Zug, um den Weg nach Neukölln anzutreten. Vielen Kindern hat sie schon auf die Welt geholfen, kein Wunder hat sie ihre Oma die Dorfhebamme von Kindesbeinen an bei ihrer Arbeit unterstützt. Aber nun gilt es für die nächsten 18 Monate die Hebammenschule zu besuchen, um die amtliche Zulassung zu bekommen. Dorthin führt auch der Weg von Edith Stern, der Tochter des wohlhabenden jüdischen Kaufmanns, die vom Wunder neugeborenen Lebens ergriffen, der scheinheiligen Welt in ihrer Familie entkommen will und auch der von Margot Bach, die dank eines Empfehlungsschreibens mit einer Berufsausbildung die Möglichkeit bekommt, sich selbst und den Rest der Familie aus dem täglichen Elend in der Hinterhofwohnung zu befreien. Gemeinsam treten sie im Juli 1917 ihren Dienst an.

Als Leser darf man die drei Frauen, die schnell zu unzertrennlichen Freundinnen werden, bis zum Dezember 1918 begleiten. Man darf mit ihnen unheimlich vielen Neugeborenen auf die Welt helfen, geht mit ihnen ihre Fürsorgerunden in Neukölln, spürt täglich die Auswirkungen des Krieges hautnah mit und erlebt mit ihnen ihren arbeitsintensiven Dienst, teilweise mit Doppel und Dreifachschichten. „Es versetzte ihr einen Stich, als sie beobachtet, wie eine Mutter ihr Kind aus Zeitungspapier wickelte, das von einer zerschlissenen Decke gehüllt war.“ Man muss sich mit ihnen Entsetzlichem stellen, kämpft, teilweise leider auch erfolglos gegen Tuberkulose, Grippe, Lungenentzündung und zunehmende Unter- und Mangelernährung. Es heißt nicht nur einmal schmerzhaft Abschied zu nehmen von liebgewonnen Mitspielern, aber es gibt auch Momente zum Hoffen und Freuen, so nah liegt hier Tod und Leben. Auch das Herz zum Verlieben und Schwärmen wird von der Autorin nicht ganz vergessen.

Dieser Roman wird mit den Worten „Die große Hebammen-Saga historisch fundiert, atmosphärisch …“ beworben und das kann ich nur so bestätigen. Die Autorin nimmt einen nicht nur mit auf eine Reise, bei der die Atmosphäre der Zeit perfekt erschaffen wird, sondern sie spickt ihre Geschichte auch zusätzlich mit vielen kleinen äußerst wissenswerten Details. Man geht mit den drei Freundinnen auf ihren Fürsorgerunden in kalte, dreckige Hinterhofwohnungen, läuft mit ihnen an Ausgabestellen der Suppenküche vorbei, vor denen die Schlagen täglich länger und die Anstehenden dünner werden und auch Ausflüge in die reiche Welt, die während andere verhungern und erfrieren, kaum eine Entbehrung spüren muss, fehlen nicht. Kriegsmüde und Spartakisten auf der einen Seite, auf der anderen die, die immer noch vom Sieg träumen und lieber einen Heldentod sterben, verwundete, verhärmte Kriegsversehrte, verarmte Witwen, die sich teilweise selbst verdingen müssen, um über die Runden zu kommen, all die, die die Zeit gezeichnet hat, kreuzen die Wege, die Atmosphäre passt perfekt. Ich liebe es, wenn ich beim Lesen ganz nebenbei noch dazulernen kann, das macht für mich auch die wirklich guten historischen Romane aus. So erfährt man hier z.B., dass Kinder um die Hälfte Bus fahren durften, wenn sie Brennnesseln für Ersatztextilien sammeln, die Reichsregierung zum Barfußlaufen aufgerufen hat, oder dass die ultimativ neue Erfindung des Inkubators für Säuglinge bei der Weltausstellung in Berlin ausgestellt wurde und nicht nur das. „… empfand es als befremdlich, dass die Inkubatoren, die ja medizinische Geräte sind, im Vergnügungsbereich neben dem Kongodorf und Tiroler Jodlern ausgestellt waren. Als Kinderbrutanstalt wurden die Apparate bezeichnet.“ Das ist genau das, was Geschichte für mich spannend macht.

Der einnehmende, atmosphärisch dichte Sprachstil der Autorin liest sich flüssig und die Seiten fliegen nur so dahin. Es gelingt ihr beim Leser Emotionen zu erzeugen. Auch wenn sie mich von Anfang an mit einzelnen Szenen gefühlsmäßig in ihrem Bann hatte, empfand ich allerdings auch die eine oder andere Länge. Nachdem die erste Begeisterung für das Wunder von neuem Leben verklungen war, hätte mir die eine oder andere Geburt weniger oder zumindest knapper beschrieben, sicher auch genügt. Aber je besser ich die drei Freundinnen und auch die anderen Mitspieler kennenlernen durfte, desto mehr hat mich Linda Winterberg mit ihrer Geschichte eingefangen und ich habe die Welt um mich herum vergessen, weil ich so mitgelebt, gefühlt und gelitten habe. Ich war ganz oft tief betroffen oder habe ergriffen und schockiert gelesen. Aber man muss nicht in abgrundtiefe Trauer verfallen, denn man darf auch immer wieder einmal schmunzeln. So hat mir auch die ein oder andere pointierte Beschreibung, wie „Sie ist bestimmt ein Besen. Ich hatte früher ein Kindermädchen, das ihr ähnelt.“, ein Grinsen im Gesicht bereitet oder das schlagfertige Zurückweisen von Beleidigungen mit den Worten „>Wie nett. Die Tochter eines Politikers und dann auch noch ein Stadtrat.< Erwiderte Edith mit einem zuckersüßen Lächeln > und sein Töchterchen macht eine Ausbildung zur Hebamme. Fand sich kein Kerl zum Heiraten?<“ vor Genugtuung die Mundwinkel nach oben gezogen.

„…voller liebenswerter Figuren.“, ein weiteres Werbeversprechen, das hier gehalten wird. Die drei Frauen sind selbstlos, frei von jeglichem Selbstdünkel und haben ein solch großes Herz, dass man sie einfach mögen muss. Eine jede von ihnen ist grandios gezeichnet, hat ihr ganz eigenes, authentisches Profil mit Sorgen, Nöten und Hoffnungen. Aber auch die anderen Mitspieler haben mir allesamt gut gefallen, bei Lene, der guten Seele in der Wäscherei angefangen, über Lehrergattin Frau Stutner, die bei Erkältungen schon mal mit Honig und Kräutertee aushilft, bis hin zu Auguste Marquard, die entgegen aller Befürchtungen kein Besen ist, sondern ihr Herz genau an der richtigen Stelle hat.

Alles in allem bekommt der erste Teil der Hebammen Saga von mir noch fünf Sterne, denn auch wenn ich, besonders zu Beginn, die eine oder andere Länge empfunden habe, hat mich die Autorin mit ihrer Geschichte tief bewegt und mir dank der tollen Recherche viele neue Einblicke beschert.