Im Rhythmus des Lebens schwimmen
Wer schwimmt, folgt einem bestimmten Rhythmus. Und rhythmisch beginnt auch das Buch von Lena Johannson. Wir sind mit Alice im Wasser. Johannson beschreibt den Takt ihrer Bewegungen, Arm- und Beinschlag, durchziehen, Luft holen. Ihr Stil lebt ebenfalls von rhythmischen Wechsel: langer Sätze mit Nebensätzen, gefolgt von einem gerade mal fünf Worte langen Satz, dann ein Zwei-Wort-Satz, dann nur noch ein Wort. Wie ein Ausrufezeichen. In ihrem Nachwort erklärt Johannson, dass sie sich für Schwimmen als Alices Lieblingssportart entschieden hat, weil sie selbst gut und gern schwimmt. Und genau das merkt die Lesenden jedes Mal an, wenn sie mit Alice im Wasser sind. Zum Beispiel, wenn Joseph, ihre große Liebe, ihr das Schwimmen beibringt. Für diejenigen, die den Sport lieben, fühlt es sich wie Fliegen an.
Mit Alice lernen wir zunächst ein Mädchen kennen, die Ende des 19. Jahrhunderts in Nantes aufwächst. Der Vater ist Lebensmittelhändler, die Familie ist ganz gut gestellt, gehört aber nicht zur Oberschicht. Alice muss sich das Schlafzimmer mit ihren Geschwistern teilen; das Kleid, das sie zu einer Schulfeier trägt, hat ihre Mutter aus einem ihrer alten Kleider genäht. Als gute Schülerin erhält Alice Preise für bestimmte Fächer. Nur dem Sportunterricht bleibt sie fern – sie, die gerade im ersten Kapitel mit einem Kutschpferd um die Wette läuft. Etwas trotzig, keine Herausforderung scheuend.
Dem weiblichen Erziehungsideal ihrer Zeit entspricht das nicht. Die Gründe deuten sich im Gespräch der Eltern mit der Schulleiterin an. Johannson stellt Eltern vor, die ein gewisses Verständnis für die Eigenständigkeit ihrer Kinder mitbringen. Die sich beim Zeitungslesen durchaus kritisch mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Was sicherlich auch Voraussetzungen dafür sind, dass Alice später zu einer Vorreiterin für den Frauensport wird. Es macht Spaß, diese lebendigen Dialoge zu lesen, die viel Charakter offenbaren. So ist es auch mit den Diskussionen, die Alice mit ihrem Ehemann Joseph führt. Obwohl er ihr das Schwimmen beigebracht hat, sieht er die Teilnahme von Frauen an Wettkämpfen eher skeptisch. Dankenswerterweise überstrapaziert Johannson die Regel „Show, don’t tell“ nicht. Sie schildert szenisch, wo es angebracht ist, um Plot und Persönlichkeiten auf den Punkt zu bringen.
Geschickt verwebt Johannson wichtige Ereignisse der Zeit um 1900 mit Alices Leben. Als diese als Gouvernante zu armenischen Christen nach London zieht, wird deren Verfolgung unter Sultan Abdülhamid II. thematisiert. Ebenso die englische Frauenbewegung um Emmeline Pankhurst und die Bedeutung, die der Sport zu jener Zeit in der englischen Gesellschaft hatte. Dort macht Alice eben auch die Erfahrung, dass Frauen in Wettkämpfen teilnehmen können und für ihren Körpereinsatz „beinah bejubelt wurden wie ein Mann“. Der Sport hilft Alice, mit Schicksalsschlägen umzugehen. Und es sind Worte von Joseph, die ihr später die Kraft geben, ihren Weg weiterzugehen – den Weg der historischen Alice Milliat, Mitbegründerin des französischen Frauensportverbands und des Internationalen Frauensportverbands. Johannson macht die Frau hinter den biografischen Eckdaten fassbar, indem sie sich von diesen teilweise löst und ihre Fantasie spielen lässt. Wie die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verlaufen, erläutert Johannson im Nachwort am Ende dieses spannenden und kurzweiligen Kapitels europäischer Frauengeschichte.