Lost in Hessisch Sibirien

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
martinabade Avatar

Von

Bevor wir auf den Text, die Handlung und die Protagonisten dieses Romans zu sprechen kommen, müssen wir über den Ort des Geschehens sprechen. Kassel. Bekannt als die hässlichste aber zumindest die architektonisch nichtssagendste Stadt für weite Teile der Republik.

Das kulinarisch Typische ist nicht für jeden, aber für alle ist etwas dabei: Ahle Wurst, Kasseler Grüne Soße, Duckefett und Weckewerk sind die Gaumenfreuden der Stadt.

Die Menschen von Kassel nennen sich nicht immer gleich. Wer in Kassel geboren wurde, ist ein „Kasselaner“. Eingewanderte werden als „Kasseler“ bezeichnet. Wenn beide Eltern eines Kasselaners ebenfalls in Kassel geboren wurden, spricht man von einem „Kasseläner“. Die Bezeichnungen haben keinen Einfluss auf die Stellung einer Person in der Gesellschaft. Es ist mehr ein Spaß, den sich die Bewohner Kassels damit machen. Auch dieses Sujet werden wir im Buch wiederfinden.

Bei einem Luftangriff der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg wurde die Kasseler Innenstadt nahezu komplett zerstört. Über 80 % der Stadt gingen in Schutt und Asche, darunter 97 % der Altstadt mit ihren aus dem Mittelalter stammenden gotischen Fachwerkhäusern. Die Stadt verlor ihr Gesicht und bekam es auch nicht wieder. Der Wiederaufbau der Infrastruktur bot in den 50er Jahren Platz für ein verkehrstechnisches Versuchslabor, das gründlich misslang. Da half und hilft auch keine documenta.

Da hat das arme Haus von vornherein ganz schlechte Karten. Es steht in der falschen Stadt. Es kann einfach nichts richtig machen und drückt seine Frustration darüber in unberechenbaren Wasserrohrbrüchen aus.

Nun zu den Menschen.

„Eigentlich ist jede Familie eine Sekte für sich, mit irgendeiner speziellen Idee oder Wahnvorstellung, um die alles kreist“, sagt die Ich-Erzählerin in Miriam Böttgers Roman. Das Buch ist Autofiktion. Die Ich-Erzählerin fährt oft aus Berlin zurück in ihre Heimat, sei es während des Studiums oder auch nachher im Berufsleben. Sie hat das Gefühl, sie müsse sich um ihre Eltern kümmern, sonst gäbe es nur noch weitere Unglücke und Leid, Leid, Leid.

Aus der Sicht der Eltern, vor allem der Mutter, ist diese Kasseler Existenz ein einziges Unglück. Über die Mutter erfahren wir im Laufe des Textes am meisten. Eine Diva, die sich bis mittags in ihrem Zimmer aufhält. Die in Krisen das Essen vom Gatten auf einem Tablett vor die Tür serviert bekommt, um es dann zu verschmähen und lediglich das Wasser ins Zimmer zu ziehen. Eine zarte, unglaublich zerbrechlich erscheinende Person, die bei Bedarf aber sehr zäh und böse sein kann. Dazu der Vater, der sich gern im Hintergrund hält und wenig spricht. Und eben dieses Haus.

Egal, was diese Familie tut – es immer das schlechtere Auto, die kleinere Karriere, sie ziehen grundsätzlich die Niete in der Tombola. Schon lange haben die Eltern beschlossen, das Haus zu verkaufen, begleitend von der Leier des Unglücks: dieses Haus ist unverkäuflich, dafür interessiert sich sowieso niemand, das werden wir nie los, wie konnten wir uns nur auf dieses Haus einlassen. Der Mythos ist – es ist unverkäuflich.

Denkste. Es gibt einen Käufer und der Tag des Auszugs rückt immer näher.
Mit der liebevollen Komik einer Tochter, aber doch messerscharf sezierend, schildert die Ich-Erzählerin die Qual der Eltern. Was leugnen? Was zur Kenntnis nehmen? Was mitnehmen? Was wegwerfen? Die neue Wohnung ist kleiner. Der Vater ist nicht in der Lage, einen Container zu bestellen. Das erwachsene Kind kreist um seine vom Unglück verfolgten Eltern und versucht, dabei selbst nicht zu verzweifeln.

Die Erzählung lebt von den Beobachtungen und Kommentierungen der Tochter, sie breitet das ganze Familienpanorama bestehend aus zahlreichen Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins für uns aus. Die Autorin berichtet von Anekdoten und Begebenheiten, die uns schmunzeln lassen, aber auch nachdenklich machen. Diese Aneinanderreihung hat manchmal etwas Redundantes.

„Aus dem Haus“ ist ein Romandebut. Zwar ein gelungenes, aber eines, dessen Idee noch keine 220 Seiten trägt.


.