Massive Längen

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„Aus ihrer Sicht“, der dritte Roman der Autorin, erschien bereits 1949. Er spielt vor dem Hintergrund des italienischen Faschismus; seine Heldin, Alessandra, ist die Tochter einer begabten Pianistin, die ihre Träume für die Ehe mit einem Beamten aufgab. Nach dem Freitod der Mutter lebt sie eine Weile bei Großmutter auf dem Land; zurück in Rom verliebt sie sich in Francesco, einen älteren Philosophiedozenten, der sich in der Resistenza engagiert. Nach ihrer Heirat ziehen sie in eine gemeinsame Wohnung, und die hypersensible, romantische Alessandra, die sich geschworen hat, niemals eine Ehe wie ihre Eltern zu führen, beginnt, an ihrem Ehealltag zu verzweifeln.

De Céspedes beschreibt ein immer noch aktuelles Phänomen: Der romantische, liebevoll interessierte Liebhaber fällt im Alltag in sein eigentliches Wertesystem zurück. Nicht die Liebesbeziehung steht an erster Stelle, sondern der Beruf und seine persönlichen Neigungen. Allerdings kann uns in der Gegenwart ihre monokausale Erklärung nicht mehr überzeugen: Es ist nicht die Institution der Ehe, die dafür verantwortlich ist, sondern eine komplexe Genderkonditionierung - was uns in Zeiten der Pandemie wieder einmal vor Augen geführt worden ist.

Zwar thematisiert der Roman auch den antifaschistischen Widerstand und kritisiert im Besonderen die Ablösung der faschistischen Doktrin durch das Diktat des Konsums, eingeführt durch die amerikanische Besatzungsmacht. Aber letztlich ist die Historie nicht mehr als eine Folie für Alessandras Kampf darum, in ihrer Ehe wahrgenommen zu werden. Sie sieht ihrem Mann beim Schlafen zu und verzweifelt an "... der unüberwindlichen Mauer männlicher Schultern." Manches liest sich durchaus gegenwärtig: „Wenn sie in ihrer Karriere […] einen Fehler machen, ist ihnen das peinlich, doch niemals ist es ihnen wichtig, keinen Fehler in der Liebe zu machen.“ Frauen hingegen wissen, dass es nichts Wichtigeres gibt als die Liebe. „Aber Männer mögen keine Frauen, die so etwas begreifen. Sie kapseln sich lieber ab […].“ An anderer Stelle wiederum mutet der Roman eher altmodisch an: Alessandra hätte mit Tomaso, einem Freund ihres Mannes, die Gelegenheit, ihre Sehnsucht nach Nähe und Intimität zu stillen, aber sie will die „Reinheit“ ihrer Liebe nicht beschmutzen und versagt sich diese Erleichterung. De Céspedes erlaubt ihrer Protagonistin nicht, sich von ihrer Liebe zu emanzipieren und, so wie die Männer, ihre Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen. Stattdessen belässt sie ihre Protagonistin in ihrer emotionalen Unfreiheit. Daher lese ich den Roman nicht, wie er häufig interpretiert wird, als feministisches Statement, sondern als eine fast schon kitschige Ode an die Liebe.

Alessandra geht ebenfalls in den antifaschistischen Widerstand, aber aus den falschen Gründen: Sie hofft, ihrem Mann endlich auf Augenhöhe begegnen zu können. Aber zwischen Mann und Frau ändert sich nichts, obwohl die Frauen im Krieg ihre Gleichwertigkeit vielfach bewiesen haben. Alessandras Ohnmacht mündet in einer Verzweiflungstat; der Roman ist der Rückblick darauf, „aus ihrer Sicht“ geschrieben.

So dramatisch Story und historischer Hintergrund klingen, der Roman löst sein Versprechen der Spannung nicht ein. Die ersten 100 Seiten fand ich noch leidlich interessant, aber die Message ist bald klar; sie muss nicht in endlosen Variationen wiederholt werden. Dennoch werden die Empfindungen der Protagonistin so minutiös und kleinteilig beschrieben, dass mein Interesse dafür zusehends schwand. Im Mittelteil, also gut 300 Seiten lang, fand ich die Längen fast unerträglich, und erst im letzten Fünftel konnte mich der Text wieder fesseln. Spannung entsteht nur daraus, dass man auf die Bestätigung eines Verdachtes hinliest, nämlich den, dass Alessandra diesen Text im Gefängnis schreibt. Dafür aber ist der Spannungsbogen zu lang und muss zu viel überbrücken. Die kluge Analyse in Barbara Vinkens Nachwort steckt einem gleich eine ganze Lichterkette auf; mit dem langatmigen, anstrengenden Leseerlebnis versöhnte es mich jedoch nicht.

Fazit: Ein frühes, feministisches Manifest, das durch Redundanz langweilt, veraltete Schlüsse zieht und mit seiner antiquiert kompromisslosen Überhöhung des Liebesideals nicht mehr überzeugen kann.