Sprachlich großartig, inhaltlich mit einigen Längen

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fahrcks Avatar

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Aus Ihrer Sicht ist die deutsche Erstübersetzung eines in Vergessenheit geratenen italienischen Klassikers - erstmalig erschienen 1949. Durchweg aus der weiblichen Perspektive geschrieben ist es inhaltlich (und auch von der Covergestaltung her) ein feministisches Buch, in dem wichtige, heute hoch aktuell diskutierte Themen - wie etwa unbezahlte Care-Arbeit von Frauen – kritisiert werden. Auch wird vor dem politischen Hintergrund des Faschismus in Italien wiederholt Kritik am Krieg und dessen Folgen geäußert. Die Leser*innen folgen der Biografie der Ich-Erzählerin von frühester Kindheit bis zum Jetzt. Dabei gibt es gerade am Anfang einige Zeitsprünge, die nicht unbedingt förderlich für das Verständnis sind und mehrfach wendet sich die Autorin im Text direkt an die Leser*innen, ob sie nicht zu viel vorwegnimmt oder zu ausführlich erzählt. Wobei man ihr jeweils laut „Ja!“ zurufen will. Vor allem eine dieser direkt an die Leser gerichteten Passagen nimmt ein einschneidendes Ereignis vorweg, das in der erzählten Geschichte erst 120 Seiten später passiert. Die Autorin selbst verrät so einen Spoiler, worüber ich mich leicht geärgert habe.
Zwischenmenschliche Situationen und die Gefühlswelten von Alessandra sowie ihrer Mutter und einiger enger Begleiterinnen werden so eindrücklich beschrieben, dass eine große Empathie entsteht. Dennoch bleiben die Figuren der Ich-Erzählerin sowie ihrer Familie und Freunde mir bis zum Ende eher wenig sympathisch bis ausgesprochen unsympathisch, was aber durchaus gewollt ist wie ich meine.
So liest sich das Buch einigermaßen mühsam, da verhältnismäßig wenig Handlung und dafür seitenweise Ausführungen über Gefühlslagen und Fantasiegedankenwelten stehen. Damit hat das Buch also ziemliche Längen, wegen denen ich es mehrfach einige Zeit zur Seite gelegt habe, doch der großartige Sprachstil, die sphärischen Beschreibungen und starken Bilder lassen einen dann doch immer wieder zur Lektüre zurückkehren.
Irreführend und unglücklich formuliert finde ich den Klappentext, da am Ende eben nicht die Rebellion siegt, sondern Resignation die Oberhand behält – zumindest ist das meine Wahrnehmung. Außerdem wäre eine Trigger-Warnung zum Thema Suizid mehr als angebracht gewesen, da dieses Thema mehrfach ausführlich unter anderem als letzter Weg zur Freiheit beschrieben wird, was ich ohne vorherige Warnungen durchaus mehr als fragwürdig finde. Solche Warnungen oder Hinweise sind mittlerweile doch zeitgemäß und leicht umzusetzen.
Trotz der bestehenden Kritik habe ich das Buch vor allem wegen des tollen Sprachstils (großes Lob hier auch an die Übersetzerin Karin Krieger) und den interessanten Themenansätzen gerne gelesen und habe es bereits mehrfach weiterempfohlen, jedoch mit Einschränkungen, da es sicher nicht für alle Leser*innen geeignet ist.