Unbedingt lesenswert, toll geschrieben

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frischelandluft Avatar

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Ein tolles Buch! Die Sprache ist einfach und eindringlich und damit fast schon hypnotisch. Die Handlung wird langsam und mit vielen Details erzählt. Darauf muss man sich einlassen, baut aber Alessandras Leben aus vielen kleinen Bausteinen auf wie einen Raum, in dem man sich mit ihr befindet und in dem man sich – wie sie – gefangen fühlt und zu ersticken glaubt.
Der Roman ist in einem Stück geschrieben ohne Kapiteleinteilung, als ob sie sich ihr Leben von der Seele schreibt, um endlich ihre Geschichte mit ihren Worten zu erzählen. Das liest sich ein bisschen schwieriger, besonders bei über 600 Seiten, aber passt zur Entwicklung: Unaufhaltsam entwickelt sich die Handlung zum Ende hin.
Die Protagonistin Alessandra ist eine starke und vielschichtig gezeichnete Frau. Sehr reflektiert erzählt sie von ihrer Kindheit, Jugend bis sie ungefähr Mitte 20 ist. Ihr Kindheit und Jugend verlebt sie in einer dunklen Wohnung, die aus drei Frauen (der schönen schöngeistigen Mutter, der Haushaltshilfe und Alessandra) und dem Vater besteht, um den sich alles zu drehen hat. Dem gegenüber steht die helle, fröhliche Wohnung der Nachbarin Lydia und ihrer Tochter und deren Liebhabern.
Das Thema Frauen versus Männer ist dominant ohne platt erzählt zu werden. Alessandra trifft ihre eigenen Entscheidungen. Unbegrenzt frei ist sie nicht, zumindest nicht, wenn sie innerhalb der Gesellschaft verbleiben möchte. Es geht um Erwartungen und Rollenverhalten, um Schein und Sein, um die Sehnsucht nach Selbstbestimmung, nach Liebe und Dialog auf Augenhöhe und in Folge nach einer harmonischen Gemeinschaft der Frauen. Diese wäre vielleicht eine Lösung, wenn da nicht das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Lust und Liebe wären.
Eine meiner Lieblingsfiguren des Romans ist die Großmutter in den Abruzzen, eine echte Padrona. Sie sticht heraus, denn sie hat Macht und steht über der Norm. Sie ist eine kluge Frau, die ihre Position durch Rang, Vermögen und Alter erlangt hat und durch ihre fast aussen stehende Rolle Männer und Frauen analysiert und die Handlungsmöglichkeiten realistisch, aber nicht progressive einschätzt. Sie sieht viel von sich selbst in Alessandra. Mehr wird hier nicht verraten, keine Spoiler.

Ich habe letzten Sommer “Das verbotene Notizbuch” von Cespedes gelesen, das ich hier auch sehr empfehlen kann. Für mich gehört Cespedes mit Elena Ferrante, Delphine de Vigan und Annie Ernaux zu meinen aktuellen Lieblingsautorinnen. Starke Frauen, die etwas zu sagen haben und die gehört werden, die uns als Frauen daran erinnern, dass unsere Emanzipation, wie wir sie heute in Mitteleuropa leben, zwar nicht perfekt ist, aber in den letzten 100 Jahren einen weiten Weg gegangen ist, den unsere Mütter und Großmütter sich für uns erkämpft haben.