Das Verschwinden eines Kindes und die Folgen

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„Beeren pflücken“ erzählt die Geschichte eines verschwundenen Kindes und den Auswirkungen auf seine Familie, speziell auf den Bruder, der die 4-jährige Ruthie zuletzt sah. Dazu nutzt die Autorin zwei Blickwinkel, den des Bruders Joe und den von Ruthie selbst, die als Norma aufwächst und ihre Vergangenheit fast vergessen hat.

Während man von Joe erfährt, wie es der Familie ergangen ist und wie er selbst immer mehr auf die schiefe Bahn gerät, erzählt Norma vom Aufwachsen bei ihrer „neuen Familie“. Nach und nach nimmt sie Unstimmigkeiten in ihrer Geschichte wahr, aus denen sie ihre eigenen Schlüsse zieht, die aber nicht das ganze Ausmaß der Tragödie umfassen, das ihr erst viel später klar wird.

Ich habe Ruthies / Normas Perspektive deutlich lieber gelesen als die von Joe. Diesen Part habe ich irgendwie als romanhafter wahrgenommen, während Joe realer, autobiographischer rüberkam. Dennoch war der Erzählstrang der weiblichen Protagonistin deutlich spannender. Ihre Story hat mehr Antrieb und hat sich flüssiger gelesen. Joe erzählt eher ruhig, dieser Teil ist trauriger und lebt mehr von Rückblenden.

Das Setting im ländlichen Neuengland und Kanada hat mir gut gefallen, ebenso die vagen Erinnerungen von Ruthie, das Gefühl von Nostalgie, Verlust und Vergänglichkeit. Ganz nachvollziehen konnte ich dennoch nicht, warum sie ihre Mutter nie mit ihren Vermutungen konfrontiert hat. Das Ende war etwas vorhersehbar, aber nicht schlecht.

Ich habe mich kurz gefragt, ob nicht politische und gesellschaftliche Bezüge etwas kurz gekommen sind. Andererseits ist da das schnelle „Zu-den-Akten-legen“ und das Kaum-Reagieren der Behörden auf das Verschwinden von Ruthie. Und natürlich kann auch eine Angehörige der First Nations eine tragische Geschichte erzählen, in der das „Indianer“-Sein zwar Bestandteil ist, aber nicht im Vordergrund steht und in der nicht der mahnende Zeigefinger erhoben wird. Insgesamt ein schönes Buch, das ich gern gelesen habe.