Die Suche nach Identität und die heilende Kraft der Wahrheit!

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isleofharris Avatar

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Das Cover des Buches hat mich persönlich sofort angesprochen. Es ist visuell eindrucksvoll und voller Symbolik. Die prallen, dunkelblauen, reifen Blaubeeren, die die gesamte Fläche übersäen, sind plastisch dargestellt und wirken hierdurch sehr realistisch. Die Farbgebung sowie die sanften Lichtreflexe erzeugen eine stille, melancholische Atmosphäre.

Diese Blaubeeren tragen eine tiefere Bedeutung, die eng mit der Handlung des Romans verwoben ist. Sie stehen für die indigene Mi’kmaq-Familie aus Nova Scotia, die jeden Sommer zur Blaubeerernte nach Maine reist – ein Ritual, das eng mit ihrer Identität und der Sicherung des Lebensunterhaltes verknüpft ist.

Die riesigen Blaubeerfelder werden zum Schauplatz eines dramatischen essenziellen Verlustes, als das kleine Mädchen und Familienmitglied Ruthie dort spurlos verschwindet. Das letzte Mal sieht ihr Bruder Joe sie, wie sie still auf ihrem Lieblings-stein am Rand des Beerenfeldes sitzt. Danach verliert sich jede Spur. Ihr Verschwinden reißt eine Wunde, die innerhalb der Familie nie ganz verheilt – ein Schmerz, der sie fortan begleitet und unbeantwortete Fragen hinterlässt.

Obwohl sich weitere familiäre Tragödien ereignen, bildet der Verlust von Ruthie den emotionalen Kern der Erzählung – eine rote Linie, die alles verbindet: das Leid der Familie, die Hoffnung, die Suche nach Antworten. Der Verlust wird als Zustand dar-gestellt, der wie ein melancholischer Schatten über Generationen liegt.
Die Autorin zeichnet ein feinfühliges Porträt dessen, was Familien ausmacht – und was sie aushalten müssen, wenn eine Tragödie geschieht. Er erzählt vom Schmerz des Verlustes, der Last der Erinnerung und den Auswirkungen auf die Familienmitglieder, die bis in die Gegenwart reichen.

Der Plot entfaltet sich auf zwei Zeitebenen: der Vergangenheit rund um Ruthies Verschwinden und der Gegenwart, in der sich allmählich ein Gesamtbild formt, wie ein Puzzle, das Stück für Stück zusammengesetzt wird. Hierbei werden von der Autorin klug Hinweise gestreut und Wendungen eingebaut.

Der Spannungsbogen ist ruhig, aber konstant. Er baut sich meisterhaft langsam auf und wird getragen von der Hoffnung des Lesers auf Auflösung und der Angst vor dem, was sie mit sich bringt. Besonders gegen Ende hin beschleunigt sich das Tempo, und die Erkenntnisse treffen die Figuren sowie den Leser mit voller Wucht.

Der Schreibstil ist leicht verständlich und flüssig; die Dialoge authentisch. Die Autorin verzichtet auf übermäßige Dramatik, stattdessen setzt sie auf die Wirkung leiser Zwischentöne, Unausgesprochenem, und dem inneren Monolog. Auch der Perspektivwechsel, der jeweils durch die beiden Hauptfiguren erfolgt, ermöglicht eine differenzierte Darstellung der Ereignisse und ergänzt die Handlung um individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen.

Die Naturbeschreibungen sind besonders hervorzuheben. Sie sind sehr detailliert und werden poetisch beschrieben: „Ich sah zu, wie sich der Himmel von Blau zu Rosa zu Violett verfärbte, wie die Wolken sich in Pastellfarben auflösten, und ich war fasziniert vom Formationsflug der kleinen Seevögel“ (Seite 157).

Der Roman behandelt nicht nur das Thema Verlust, sondern ist auch eine Erzählung über Familienzusammenhalt, Mutter-Tochter Beziehung, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Identität, Fehlgeburten sowie Rassismus.

Fazit: Das Buch hat meine Erwartungen übertroffen. Die gefühlvolle Geschichte hat mich sehr berührt – vor allem die eindrucksvolle Darstellung, wie ein traumatisches Ereignis das Leben einer ganzen Familie prägen kann, und die leise, aber eindringliche Auseinandersetzung mit der Frage nach Versöhnung.
Es ist eines jener Bücher, das einen auch nach dem Umblättern der letzten Seite nachdenklich zurücklässt. Absolut lesenswert!