Ein fesselnder Roman über Verlust, Zerrissenheit und Vergebung

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zuckerblueten Avatar

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Wie jedes Jahr im Sommer kommen auch im Juli 1962 die Eltern mit ihren fünf Kindern von Kanada nach Maine, um bei der Beerenernte zu helfen. Die Familie gehört den Mi`kmaq an, einer indianischen Minderheit. Ebenso wie die anderen Erntehelfer auch, sichern sie sich durch die schwere Saisonarbeit ein gutes Stück ihres Einkommens. Jeder muss mithelfen, nur die Kleinsten sind noch von der Arbeit ausgenommen. Sie beschäftigen sich weitestgehend selbst, spielen am Rand der Felder, warten auf den Abend.

Joe verbringt seine Pause mit der Schwester Ruthie, die gerade einmal vier Jahre alt ist und damit zwei Jahre jünger als er selbst. In einem Moment der Unachtsamkeit verschwindet Ruthie und wird selbst nach tagelanger Suche nicht gefunden. Joe gibt sich die Schuld daran, über all die Jahre hinweg kann er sich von diesen Gedanken nicht lösen. Als er alt, krank und gebrechlich ist, schaut er mit viel Wehmut zurück. Doch er hat nie daran geglaubt, dass Ruthie tot sei.

Norma wächst nicht weit von den Feldern entfernt in einem gut bürgerlichen Haushalt auf. Ihr Vater ist Richter, ihre Mutter lässt kaum einen Blick von ihr. Sie liebt dieses Kind, gewährt ihr jedoch kaum Freiheiten, weil in ihr die ständige Angst des Verlustes lebt. Norma bleibt kaum Luft zum atmen, sie darf nicht wie andere Kindern unbeschwert in der Nachbarschaft spielen. Doch gleichermaßen begleiten sie andere Dinge, denn sie wird ständig von geheimnisvollen Träumen geplagt.

Ruthies und Normas Leben sind jedoch eng miteinander verwoben. Es wird noch viele Jahrzehnte dauern, bis die Wahrheit ans Licht kommt.

Mich zog dieses Buch von Beginn an in seinen Bann. Joes Prolog bietet einen gelungenen Einstieg. Wir lernen seine Familie kennen, erfahren von dem unheilvollen Verschwinden seiner kleinen Schwester. Gleichzeitig ist der große Schmerz in seinen Worten spürbar. Er beschreibt den Alltag auf den Feldern, schafft Nähe zu den Gegebenheiten und lässt an dieser Stelle bereits Einblicke in die tiefe Ausgrenzung zu.

Die Kapitel wechseln zwischen Joe und Norma. Es gibt zwei unterschiedliche Erzählperspektiven, die einerseits gut nachvollziehbar sind und zum anderen die Möglichkeit bieten, in zwei völlig unterschiedliche Welten einzutauchen. Der Autorin gelingt es sicher, dem Leser Normas Gefühlswelt und ihr Aufwachsen nahe zu bringen. Sie wirkt von der Liebe ihrer Mutter beinahe schon erdrückt, sie scheint schon früh Zweifel zu hegen, möchte jedoch auch ihre Mutter und ihr Handeln verstehen.
Sehr gut gefällt mir der Stil des Buches. Die beschreibende Art, zum Teil tatsächlich sehr detailreich, sorgt für ein leichtes Verständnis, der Leser fühlt sich inmitten der Situation. Die Worte sind bedacht, behutsam gewählt. Neben der eigentlichen Thematik, nämlich dem Verschwinden eines Kindes, spricht die Autorin auch die Ausgrenzung der indianischen Minderheit an. Sie gelten lediglich als "Durchreisende" mit wenig Rechten, sind billige Arbeitskräfte und eigentlich nimmt sich niemand wirklich wahr.

Für mich ist es ein Roman, den man nur ungern wieder aus den Händen legt. Er beschreibt Verlust, Schmerz, Zerrissenheit auf einfühlsame und bewegende Weise. Ein Buch für die stillen Stunden des Tages.